"Die Deutschen sind unglaublich" Samir, der König von Deutschland
26.09.2015, 14:09 Uhr
Die Syrer stellen eine der größten Gruppen unter den Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Rathaus Berlin-Wilmersdorf.
(Foto: picture alliance / dpa)
Nach vier Jahren Bürgerkrieg hält Samir Al-Yaser es nicht mehr aus. Er verlässt seine syrische Heimat. Sein Ziel ist Deutschland. Die Geschichte einer Flucht, die beinahe vorzeitig zu Ende gegangen wäre.
Da sitzt er nun und kommt aus dem Grinsen nicht mehr raus. Ob er glücklich ist, in Deutschland zu sein? "Ich bin völlig aus dem Häuschen", sagt Samir* Al-Yaser. Aber der Mann mit den kurzen Haaren und dem ansteckenden Lachen war nicht immer so zufrieden. Er hat Monate hinter sich, die er nie vergessen wird. Im April brach er in seiner Heimatstadt, dem syrischen Homs, auf. Der Tiermediziner, der anonym bleiben möchte, will nach Deutschland. Doch damals ist es nur eine Hoffnung, dass er dort auch ankommen wird.
Der 30-jährige Syrer bringt seine Frau zunächst nach Ägypten, "an einen sicheren Ort". Er will sie später nachholen. Für Samir geht die Reise nun erst richtig los. Im Juli fährt er in die Türkei, nach drei Wochen findet er einen Schleuser. Für 2000 Euro will der ihn nach Griechenland bringen. Nicht auf einem Schlauchboot, sondern auf einer Jacht, nicht mit 200 Personen, sondern mit 20 - es ist die Edel-Variante der Überfahrt. Das Boot bringt Samir auf die griechische Insel Kalymnos, von wo er einige Tage später mit einer vorübergehenden Aufenthaltsgenehmigung nach Athen übersetzt. Samir wählt die Balkan-Route, über die in diesem Jahr Hunderttausende nach Mitteleuropa fliehen.
An der mazedonischen Grenze lässt die Polizei alle halbe Stunde 40 Flüchtlinge ins Land. An der ersten Polizeistation holt sich Samir Papiere, mit denen er Züge, Taxis und Hotels nutzen darf. Er findet einen Taxifahrer, der ihn zusammen mit anderen Flüchtlingen für 100 Euro pro Person in die Nähe der mazedonisch-serbischen Grenze bringt. In einer Facebook-Gruppe für Flüchtlinge hat Samir gelesen, dass man die Grenze nicht auf direktem Weg überqueren sollte. Mit seinen Begleitern geht er einen Bogen durch den Wald. Mehrere Stunden laufen sie durch Starkregen. Trotz der GPS-Funktion ihrer Handys verlaufen sie sich.
"Das war wie in Syrien"
Völlig erschöpft kommt er in Serbien an. "Salam alaikum, mein Bruder", begrüßen ihn muslimische Männer an der Grenze. Doch auf ehrliche Hilfe kann Samir nicht zählen. Die Männer verkaufen überteuerte Sim-Karten, bieten Fahrdienste und Schlafsäcke zu horrenden Preisen an. Das Camp, in dem die Flüchtlinge auf ihre Papiere warten, liegt neben einer riesigen Müllkippe. Der Gestank ist bestialisch. Obwohl er noch keine Papiere hat, lässt sich Samir von einem der albanischen Schleuser nach Belgrad fahren. Weil er in keinem Hotel ein Zimmer bekommt, übernachtet er gemeinsam mit anderen Syrern in einem Park. Samir ist nur noch knapp 700 Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt, aber der schwierigste Teil seiner Reise liegt ihm noch bevor. Der Weg durch Ungarn.
Ein Schleuser bietet an, ihn für 1500 Euro von Belgrad nach Wien zu bringen. Samir läuft gemeinsam mit dem Schleuser und anderen Flüchtlingen die letzten neun Kilometer bis zur serbisch-ungarischen Grenze. Sie haben die Grenze erst einen Kilometer hinter sich gelassen, als sie aufgegriffen werden. "Das war der schlimmste Moment. In Ungarn haben sie mich wie einen Kriminellen behandelt. Das war wie in Syrien", sagt Samir. In Bussen werden die Flüchtlinge in das Aufnahmelager nach Röszke gebracht. In einer Halle werfen ungarische Polizisten Brötchen und Wasserflaschen in die Menge. Die Flüchtlinge werden vor die Wahl gestellt, ob sie ihre Fingerabdrücke abgeben wollen. Samir weiß: Laut den Dublin-Regeln können ihn die deutschen Behörden zurückschicken, wenn er in Ungarn registriert wurde.
Mit anderen Flüchtlingen, die ihre Abdrücke nicht abgeben wollen, wird er in ein altes Gefängnis in Debrecen gebracht. "Du musst deinen Fingerabdruck abgeben, bring dich nicht in eine unangenehme Lage", warnt ein Übersetzer. Erst nachdem man ihn zwölf Stunden in einen Container gesperrt hat, kapituliert Samir. Als der Syrer seine Fingerabrücke abgibt, erhält er wieder etwas zu essen und ein Zugticket nach Budapest. Wieder sucht Samir einen Schleuser. In der Facebook-Gruppe rät man ihm, eine bestimmte Pension aufzusuchen, in der sich die Schleuser aufhalten. Die Fahrt nach Wien kostet ihn 600 Euro.
"Selbst wenn Syrien ein Paradies ist ..."
Diesmal verläuft alles nach Plan. In der österreichischen Hauptstadt steigt Samir am 16. August in einen Zug nach München. Er betritt eine Polizeistation und sagt zu den Beamten: "Ich bin ein Syrer." Dann fährt er weiter nach Berlin, wo er in die Erstaufnahme-Einrichtung im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf einzieht. In der Unterkunft trifft er alte Bekannte wieder, eine Familie, die er auf der Flucht in Mazedonien kennenlernte und zwei Verwandte aus Syrien. Fünf Wochen nach seiner Ankunft schwärmt Samir von Deutschland: "Meine ganze Reise über wurde ich schlecht behandelt. Überall wollten Leute Geld für ihre Hilfe. Aber in Deutschland ist es anders. Die Menschen sind unglaublich. Hier lacht dich jeder an und hilft dir ohne Gegenleistung." Samir fühlt sich "wie ein König".
Seit ein paar Tagen lernt Samir Deutsch. Er will sich ein neues Leben aufbauen, mit seiner Frau, die er in sechs Monaten nach Deutschland holen möchte, einer eigenen Wohnung und Kindern. Er hofft, möglichst bald als Tierarzt arbeiten zu können. Samir will versuchen, sein syrisches Veterinär-Zertifikat anerkennen zu lassen. Notfalls werde er einige Fächer nachholen und in einer Klinik als Assistent anfangen. Sein altes Leben in Syrien vermisst er manchmal. Seine Freunde, seine beiden Häuser, die Stelle als Manager in einer Fabrik. In Syrien arbeitete er nicht als Tierarzt, weil der Job nicht besonders anerkannt ist. Wenn er eines Tages zurückkehrt, dann erst, wenn der Krieg beendet ist und nur als Besucher. "Selbst wenn Syrien dann ein Paradies ist, würde ich nicht bleiben wollen."
Samirs neues Zuhause ist Deutschland. In der Flüchtlingsunterkunft bringt sich Samir inzwischen selbst ein, er übersetzt für andere Syrer – und hilft, so wie auch ihm geholfen wurde.
* Name geändert
Quelle: ntv.de