Seenotrettung im Mittelmeer "Die italienische Regierung hat ihre Taktik geändert"
06.01.2023, 11:02 Uhr (aktualisiert)
Mitte Dezember nahm die "Sea-Eye 4" im Mittelmeer Geflüchtete auf.
(Foto: Johannes Gävert)
Die italienische Regierung verweigert Rettungsschiffen mit Geflüchteten an Bord nicht länger das Anlegen. Dafür zwingt sie die Schiffe, mit den Geretteten weit von ihrem Einsatzort entfernte Häfen im Norden des Landes anzusteuern. "Dahinter steht das Ziel, das Ende eines Einsatzes zu erzwingen und so die Zeit der Schiffe im Einsatzgebiet zu verkürzen", sagt Gorden Isler von Sea-Eye. Das Schiff des Vereins, die "Sea-Eye 4", wird derzeit in Spanien auf einen neuen Einsatz vorbereitet.
ntv.de: Ende Dezember erlaubte die italienische Regierung der "Ocean Viking", im norditalienischen Ravenna anzulegen. Das Schiff hatte 113 gerettete Flüchtlinge an Bord. War das eine gute Nachricht für die Seenotretter im Mittelmeer?
Gorden Isler: Es ist eine neue Taktik der italienischen Regierung. Die italienischen Behörden warten nicht mehr darauf, dass ein Rettungsschiff sich mit ihnen in Verbindung setzt und um Koordinierung bittet, sondern sie gehen von sich aus auf die Schiffe zu, sobald sie mitbekommen, dass ein Rettungsschiff Geflüchtete aufgenommen hat. Uns ist das auch passiert, die "Sea-Eye 4" ist im Dezember nach Livorno geschickt worden.
Livorno liegt auf der Höhe von Florenz, also ebenfalls recht weit im Norden.
Ja, diese Häfen sind erstaunlicherweise nicht die am nächsten liegenden "sicheren Orte" im Sinne des Seevölkerrechts, sondern liegen insbesondere für zivile Rettungsschiffe im Norden Italiens, obgleich die Schiffe der italienischen Küstenwache weiter im Süden anlegen dürfen. Dadurch nehmen die An- und Abfahrten sehr viel mehr Zeit in Anspruch.
Sie unterstellen eine Absicht?
Die italienische Regierung will ein Dekret erlassen, das Rettungsschiffen vorschreibt, nach einer Rettung sofort den zugewiesenen Hafen anzusteuern, ohne weiteren in Seenot geratenen Booten zu helfen. Von einem Versehen kann man hier deshalb wohl nicht sprechen - dahinter steht das Ziel, das Ende eines Einsatzes zu erzwingen und so die Zeit der Schiffe im Einsatzgebiet zu verkürzen. Und das, obwohl die italienische Rettungsleitstelle in den letzten drei Jahren stets behauptet hatte, dass sie nicht zuständig für die Koordinierung von Seenotfällen in der libyschen Such- und Rettungszone ist. Jetzt macht sie plötzlich genau das Gegenteil und übernimmt die Koordinierung, bevor sie von uns kontaktiert und darum gebeten wird. Man kann sich das hierzulande vielleicht nur schwer vorstellen, aber in Italien und auf Malta verhalten sich staatliche Akteure seit Jahren unberechenbar.
Ministerpräsidentin Meloni vertritt die Rechtsauffassung, dass die Flüchtlinge auf einem NGO-Schiff unter deutscher Flagge von Deutschland aufgenommen werden müssen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Das hat schon Matteo Salvini behauptet, als er italienischer Innenminister war. Dafür gibt es keinerlei Rechtsgrundlage. Übrigens auch nicht in Italien. Es ist deshalb ein rein politisches, rechtspopulistisches Narrativ. Ein Schiff unterliegt internationalen Gesetzen und der Jurisdiktion seines Flaggenstaats, aber das heißt nicht, dass man auf deutschem Grund und Boden steht, wenn man ein Schiff unter deutscher Flagge betritt. Alles, was über die Versorgung der Geretteten hinausgeht, soll laut Richtlinien der zuständigen UN-Behörde sogar unterlassen werden. Asylanträge kann man beispielsweise nicht auf einem Schiff stellen, die Besatzung soll nicht einmal die Identität der Geretteten feststellen dürfen. Das ist allein die Aufgabe eines EU-Staates und nicht die einer Schiffsbesatzung.
Die Bundesregierung sagt, es sei "unsere moralische und rechtliche Verpflichtung, Menschen in Seenot nicht ertrinken zu lassen", man habe außerdem angeboten, 3500 Asylsuchende aufzunehmen, die über das Mittelmeer gekommen sind. Ist das ausreichend?
Nein. Aber immerhin gibt es im Vergleich zur Großen Koalition eine Verbesserung. Die alte Bundesregierung hat immer gesagt, Seenotrettung sei wichtig, aber nichts Konkretes unternommen. Mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat sich Deutschland am europäischen Übernahmemechanismus beteiligt, auch wenn es da insgesamt nur um 10.000 Menschen geht - dass man damit in Rom nicht zufrieden sein kann, ist auch klar, denn es kommen viel mehr Menschen in Italien an. Da muss sich deutlich mehr bewegen.
Bemerkenswert ist auch, dass der Bundestag im November beschlossen hat, die Seenotrettung mit 2 Millionen Euro pro Jahr zu unterstützen. Das ist nicht nur finanziell wichtig für die Seenotrettungsorganisation, das war auch ein wichtiges politisches Signal.
Ist damit Ihre Finanzierung gesichert?
Bei weitem nicht, wir sind weiterhin auf Spenden angewiesen. Die drei großen Seenotrettungsorganisationen in Deutschland, Sea-Eye, Sea-Watch und SOS Humanity, die auch die vier größten Schiffe unterhalten, haben zusammen einen jährlichen Finanzbedarf von mehr als 12 Millionen Euro. Die 2 Millionen reichen also nicht ansatzweise aus, aber sie sind ein Anfang. Viel wichtiger ist der konkrete, politische Ansatz. Denn wohlklingende Worte allein haben noch kein einziges Menschenleben gerettet.
Sie haben Ende des Jahres einen Spendeneinbruch beklagt.
Wir hatten bis Anfang Dezember 2022 rund 23 Prozent weniger Spenden als im Vorjahr und es stellte sich keine Besserung ein. Das haben wir Ende Dezember auch öffentlich kommuniziert. Denn der erste Einsatz des neuen Jahres war bereits gefährdet. Doch die Solidarität der Menschen und unserer Partnerorganisationen war danach so groß, dass wir wenigstens diesen ersten geplanten Einsatz nun tatsächlich durchführen können. Die "Sea-Eye 4" ist aktuell im Hafen von Burriana in Spanien. Von dort sind wir schon in die letzte Mission gestartet, weil die lokale Unterstützung der Seenotrettungsorganisationen in diesem Hafen einfach herausragend ist. Wichtig ist, dass die Menschen aufmerksam bleiben und sich immer wieder klarmachen, dass Seenotrettung nicht einfach so passiert. Die Seenotrettungsorganisationen sind weiter auf die Unterstützung der Menschen angewiesen.
Wie viele Menschen hat Ihr Verein Sea-Eye im vergangenen Jahr retten können?
2022 waren es mehr als 900 Menschen. Wir konnten aber nur sechs von sieben geplanten Missionen durchführen, weil es uns an Spenden fehlte.
Wie viele Flüchtlinge und Migranten sind 2022 im Mittelmeer ertrunken?
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind im vergangenen Jahr im Mittelmehr rund 2000 Menschen ertrunken. Aber das sind nur die bestätigten Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Wie viele Rettungsschiffe sind derzeit insgesamt im Mittelmeer unterwegs?
Inklusive der "Sea-Eye 4" sind derzeit sechs größere Schiffe einsatzbereit. Ein weiteres Schiff wurde in Italien festgesetzt und die "Sea-Watch 5" wird hoffentlich ab dem Frühjahr einsatzbereit sein. Dazu gibt es noch fünf kleinere Schiffe und zwei Suchflugzeuge. Das alles wird von zivilen Seenotrettungsorganisationen aus unterschiedlichen europäischen Ländern getragen.
Die italienische Regierung sagt, dass die Anwesenheit der Seenotretter auf dem Mittelmeer mehr Menschen dazu verleiten würde, ihr Leben bei der Überfahrt zu riskieren.
Lebensrettung als "Pull-Faktor", dieses Argument gibt es, seit es die zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer gibt. Wissenschaftliche Belege dafür gibt es nicht, ganz im Gegenteil - es wurde mehrfach widerlegt. Der Wissenschaftler Matteo Villa vom Italian Institut for International Political Studies hat immer wieder gezeigt, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl der Personen, die die libysche Küste verlassen, und der Zahl der Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer. Die Zahl der Abfahrten und Ankünfte lässt sich nicht vorhersagen - wenn, dann folgt sie dem Wetter, wobei es auch bei schlechtem Wetter immer noch Menschen gibt, die offenbar glauben, dann eine bessere Chance zu haben, weil weniger Boote der Küstenwache unterwegs sind. Die Wiederholung dieses Narrativs "Pull-Faktor" ist deshalb schäbig und verantwortungslos.
In Italien sind im vergangenen Jahr 100.000 Menschen angekommen. 2021 waren es nur rund 63.000. Woran liegt die Zunahme aus Ihrer Sicht?
Obwohl Europas Abschreckungs- und Abschottungspolitik immer brutaler wird, obwohl die Zäune immer höher werden und immer mehr Grenzsoldaten an die Außengrenzen geschickt werden, sind die Zahlen auf allen Fluchtrouten im Vergleich zu 2021 gestiegen - sowohl über den westlichen Balkan als auch über das östliche Mittelmeer, über die zentrale Route und über das westliche Mittelmeer nach Spanien. Deshalb könnte der europäischen Politik doch allmählich mal klarwerden, dass die Strategie der Abschottung und Abschreckung nicht funktioniert. Wir müssen diese Herausforderung auf eine humanitäre Weise lösen. Dass das politisch möglich ist, zeigt der Umgang mit Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten. Wer hier zwischen Schutzsuchenden unterscheiden will, sollte das erklären müssen.
Mit Gorden Isler sprach Hubertus Volmer
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 03. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de