"Entsetzliche Zustände" WHO: Mehr als 2000 Menschen harren in Schifa-Klinik aus
13.11.2023, 08:22 Uhr Artikel anhören
Rauch steigt hinter dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt auf. Laut WHO funktioniert die Klinik nicht mehr.
(Foto: REUTERS)
Das größte Krankenhaus im Gazastreifen soll nicht mehr funktionsfähig sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt die Situation als verheerend. Die Zahl der Todesfälle unter den Patienten steige erheblich. Besonders Kinder und Babys seien gefährdet.
Die Weltgesundheitsorganisation hat erneut "entsetzliche Zustände" im größten Krankenhaus im Gazastreifen beklagt. Es befänden sich mehr als 2000 Menschen in der Schifa-Klinik, darunter vermutlich mehr als 600 Patienten und rund 1500 Vertriebene, schrieb die WHO auf der Plattform X (früher Twitter) unter Berufung auf das palästinensische Gesundheitsministerium, das von der radikalislamischen Hamas kontrolliert wird. Demnach konnten Patienten unter anderem keine Dialyse mehr erhalten. Frühgeborene seien zudem ohne Brutkästen in Operationssäle verlegt worden.
Schon zuvor hatte die WHO die Lage in dem Klinikkomplex mit rund 700 Betten angeprangert. Wegen der Kämpfe in unmittelbarer Nähe und Treibstoffmangels sei eine medizinische Versorgung kaum noch möglich. Dutzende Kinder seien in kritischem Zustand und könnten jeden Moment sterben, warnte die WHO.
Die WHO konnte nach Angaben ihres Generaldirektors Tedros Adhanom Ghebreyesus zwar den Kontakt zu Mitarbeitern der Klinik in Gaza-Stadt wieder herstellen. Die Lage sei aber verheerend und gefährlich. Der ständige Beschuss und die Bombardierungen in der Region hätten die ohnehin schon kritischen Umstände noch verschlimmert. Die Zahl der Todesfälle unter den Patienten sei erheblich gestiegen. Die Klinik funktioniere als Krankenhaus nicht mehr.
Schifa-Arzt bezichtigt Israel der Lüge
Gegenüber dem britischen Sender BBC bestritt ein leitender Arzt derweil, dass sich Hamas-Kämpfer in der Klinik aufhielten. Die Vorwürfe Israels seien "eine große Lüge", sagte der Chefchirurg Marwan Abu Saada. "Wir haben medizinisches Personal, wir haben Patienten und Vertriebene. Nichts anderes." Das israelische Militär hatte zuvor davon gesprochen, dass die Hamas - die ein weitverzweigtes Tunnelnetzwerk unter dem Küstengebiet für ihre Zwecke nutzt - unter der Klinik eine Kommandozentrale habe und auch andere medizinische Einrichtungen im Gazastreifen für militärische Zwecke missbrauche.
Der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, sagte, die USA hätten Israel aufgefordert, Kämpfe in der Nähe von Krankenhäusern im Gazastreifen zu vermeiden. "Die Vereinigten Staaten wollen keine Gefechte in Krankenhäusern, in denen unschuldige Menschen und Patienten, die medizinische Versorgung erhalten, zwischen die Fronten geraten", sagte Sullivan am Sonntag dem Sender CBS.
Krankenhäuser und Zivilisten als "menschliche Schutzschilde"
Die beiden größten Krankenhäuser in dem von der radikal-islamischen Hamas kontrollierten Küstengebiet mussten nach palästinensischen Angaben den Betrieb herunterfahren. Nach UN-Angaben sind inzwischen die Hälfte der Krankenhäuser in Gaza geschlossen. Mitarbeiter warnten, dass wegen israelischer Bombardements sowie mangels Treibstoff und Medikamenten insbesondere Babys gefährdet seien. Nach Angaben eines Vertreters der Hamas-Regierung starben in der Klinik mittlerweile fünf Frühgeborene und sieben schwer kranke Patienten.
Zeugen sagten, es habe rund um das Al-Schifa-Krankenhaus "heftige Kämpfe" gegeben. Das Gesundheitsministerium erklärte, die Klinik werde von israelischen Panzern "belagert". Die Europäische Union warf der Hamas vor, Krankenhäuser und Zivilisten im Gazastreifen als "menschliche Schutzschilde" zu benutzen. In einer Erklärung, die der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Namen der EU verbreitete, wurde Israel zugleich zu "größtmöglicher Zurückhaltung" aufgerufen, um das Leben von Zivilisten zu schützen.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Der Klinikkomplex gerät seit Tagen immer wieder unter Beschuss, bei einem israelischen Angriff wurde nach Angaben von Abu Risch die Kardiologie "vollständig" zerstört. Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen beschrieb die Lage in der Klinik als "katastrophal".
Die Hamas wies derweil Vorwürfe Israels zurück, sie habe 300 Liter Treibstoff abgelehnt, die für das Al-Schifa-Krankenhaus bestimmt gewesen sein sollen. Gleichzeitig kritisieren die Islamisten, dass die Menge nicht einmal ausreiche, die Generatoren des Krankenhauses länger als dreißig Minuten zu betreiben. Das Angebot verharmlose den Schmerz und das Leid der Patienten, die in der Klink festsäßen ohne Wasser, Nahrung und Strom.
Das israelische Militär hatte erklärt, es habe Samstagnacht 300 Liter Treibstoff vor dem Eingang des Krankenhauses deponiert und angeboten, neugeborene Babys zu evakuieren. Beide Gesten seien aber von der Hamas blockiert worden. Von unabhängiger Seite konnten die Angaben beider Seiten nicht überprüft werden.
Quelle: ntv.de, gut/dpa/AFP/rts