FDP am Abgrund, Piraten stark Wowereit liebäugelt mit Grünen
19.09.2011, 06:22 Uhr
Wowereit kann weitermachen.
(Foto: AP)
Die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin ist gelaufen. Amtsinhaber Wowereit gewinnt - mit leichten Verlusten. Ansonsten gibt es drei dicke Überraschungen: Rot-Rot geht nicht mehr, die Piraten ziehen überraschend stark in das Berliner Parlament ein - und die FDP ist mit unter 2 Prozent nur noch eine Randerscheinung.
Die SPD in Berlin hat die Abgeordnetenhauswahl klar gewonnen und kann mit Klaus Wowereit an der Spitze weiterregieren. Nach knapp zehn Jahren Rot-Rot deutet infolge deutlicher Zugewinne der Grünen und eines schlechten Ergebnisses der Linken vieles auf eine rot-grüne Koalition hin. Möglich ist aber auch eine große Koalition mit der CDU, die leicht zulegte. Die FDP setzte ihre Serie schwerer Niederlagen fort und flog in diesem Jahr schon zum fünften Mal aus einem Landesparlament. Die Piratenpartei zieht erstmals ein. Für eine Neuauflage der rot-roten Koalition gibt es keine Mehrheit mehr.
Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis kommt die SPD auf 28,3 Prozent (2006: 30,8). Die CDU wurde zweitstärkste Kraft mit 23,4 Prozent (2006: 21,3). Dahinter liegen die Grünen mit 17,6 Prozent (2006: 13,1), die Linke mit 11,7 Prozent (2006: 13,4) und die FDP mit 1,8 (2006: 7,6). Die Piratenpartei kam mit 8,9 Prozent aus dem Stand heraus sicher über die Fünf-Prozent-Hürde. Für sonstige Parteien entschieden sich 8,1 Prozent der Wähler. Insgesamt ergibt sich folgende Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus: SPD 48, CDU 39, Grüne 30, Linke 20 und Piratenpartei 15.
Die Wahlbeteiligung lag mit 60,2 Prozent über dem Wert von 2006 (58,0). Zur Wahl aufgerufen waren 2,47 Millionen Bürger.
Die SPD unter Wowereit war damit trotz leichter Verluste auch in der letzten von insgesamt sieben Landtagswahlen in diesem Jahr erfolgreich. Wowereit siegte bereits zum dritten Mal. Die FDP mit ihrem Spitzenkandidaten Christoph Meyer verpasste den Wiedereinzug. Nach dem fünften Patzer in diesem Jahr ist sie jetzt nur noch in 11 Landesparlamenten vertreten. Auch die Ablösung von Guido Westerwelle als Parteichef durch Philipp Rösler half den Liberalen nicht, die im Wahlkampf zuletzt die Eurokrise in den Mittelpunkt gerückt hatten. Die CDU unter Frank Henkel legte zu und setzte einen versöhnlichen Schlusspunkt unter das von vielen Pleiten geprägte Superwahljahr.
"Plumper Euro-Populismus"
Wowereit, der seinen eigenen Wahlkreis in Charlottenburg-Wilmersdorf an die CDU verlor, kündigte Sondierungsgespräche mit Grünen und CDU an. Er legte sich zunächst noch nicht auf einen Regierungspartner fest, ließ aber eine Präferenz für die Grünen erkennen: "Es gibt selbstverständlich die meisten Schnittmengen zur Partei der Grünen und nicht zur CDU, aber wir werden das sehen", sagte er. "Wichtig ist, dass die Grünen sich zu einer Stadtpolitik bekennen, die auf Fortschritt setzt, die auf Umwandlung setzt und nicht auf Stillstand", fügte Wowereit aber hinzu.
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sieht für die Bundesebene die Zeichen klar auf Rot-Grün. Das Ergebnis zeige, dass die SPD dafür die führende strategische Kraft sei, sagte Gabriel. Die schwarz-gelbe Koalition habe völlig abgewirtschaftet. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) habe keinerlei Autorität mehr. "Jeder kämpft nur noch gegen jeden", kritisierte Gabriel. Das Ergebnis der FDP zeige, dass man mit "plumpem Euro-Populismus" keine Wahlen gewinnen könne.
Lindner: "Tiefpunkt"
Die Grünen, die sich mit ihrer Spitzenkandidatin Renate Künast wegen exzellenter Umfragewerte lange Zeit Hoffnung auf den Posten des Regierungschefs gemacht hatten, können allenfalls Juniorpartner der SPD werden. Künast hat angekündigt, dass sie dann Vorsitzende der Bundestagsfraktion bleiben und nicht in die Landespolitik wechseln will. Die Linke muss mit ihrem zweitschlechtesten Ergebnis seit der Wiedervereinigung wieder in die Opposition. Die Piratenpartei, die in diesem Jahr nie über 2,1 Prozent hinausgekommen war, triumphierte und ist nun erstmals in einem Landesparlament vertreten.
Der Spitzenkandidat der Partei, Andreas Baum, sagte, seine Partei habe "durchaus ein Wahlprogramm". Nun werde er sich mit seinen Mitstreitern "erstmal einarbeiten müssen", sagte er mit Blick auf die anstehende politische Arbeit im Abgeordnetenhaus. Umfragen zeigen, dass die Piratenpartei viele Stimmen von sogenannten Protestwählern erhielt.
FDP-Generalsekretär Christian Lindner wertete das Abschneiden seiner Partei als klare Niederlage. Das Ergebnis sei "ein Tiefpunkt und ein Weckruf zugleich", sagte Lindner. Die Niederlage der Berliner FDP sei auch "eine Niederlage für die FDP insgesamt". Lindner empfahl seiner Partei nun "eine Phase der Nachdenklichkeit". Sie müsse sich angesichts der gegenwärtigen Krise vor "schnellen Antworten" hüten.
Der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler will trotz des Debakels keine persönlichen Konsequenzen ziehen. "Für mich war immer klar, das wird ein schwerer Weg", sagte der Bundeswirtschaftsminister in der ARD. Auf diesem Weg befinde sich die FDP nun. "Insofern heißt es jetzt, daran weiter zu arbeiten, dass die Ergebnisse besser werden", sagte Rösler. Persönliche Konsequenzen lehne er ab. Die Partei habe vor der Bundestagswahl 2009 hohe Erwartungen geweckt, etwa beim Thema "Mehr Netto vom Brutto" und dies nicht immer erfüllt. "Die Bundespartei steht nicht besonders gut da", räumte der Vizekanzler ein.
Linken-Spitzenkandidat Harald Wolf gab sich trotz des mauen Ergebnisses optimistisch: "Wir kommen wieder", ruft er bei der Wahlparty im Osten der Stadt. "Wir sind auch gut als Oppositionspartei", meint der Chef der Linke-Bundestagsfraktion, Gregor Gysi. CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel sagte, die Berliner CDU habe ihr wichtigtes Wahlziel erreicht. "Dieser rot-rote Senat hat keine Mehrheit mehr in dieser Stadt. Rot-Rot ist abgewählt."
Schulden und Hartz IV
Berlin wurde in den vergangenen beiden Wahlperioden von einer rot-roten Koalition regiert. In dieser Zeit bekam der Senat die Probleme der Hauptstadt, die zum Teil auch die Folge jahrzehntelanger Teilung sind, trotz Spar- und Reformbemühungen nicht in den Griff.
Das Land ist mit knapp 64 Milliarden Euro verschuldet. Mit 13,3 Prozent hat es die höchste Arbeitslosigkeit in Deutschland. Berlin zählt die meisten Hartz-IV-Empfänger und leidet unter geringen Steuereinnahmen. Der Ruf der öffentlichen Schulen ist schlecht. In den Innenstadtbezirken steigen die Mieten teils deutlich. Die Integration der rund 470,000 Ausländer (Anteil: 13,6 Prozent) ist nicht überall gelungen. Bilder von brutalen Überfällen in U-Bahnhöfen und von brennenden Autos schockieren auch über die Landesgrenzen hinaus. Diese Probleme bestimmten auch den insgesamt eher müden Wahlkampf.
Auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat hat der Wahlausgang keine Auswirkungen. Bisher zählten die vier Stimmen Berlins zum Oppositionslager. Auch nach der Wahl werden sie nicht ins Regierungslager wechseln.
Quelle: ntv.de, jmü/dpa/rts/AFP