Deutschland in der Flüchtlingskrise Republik an Berlin: Und jetzt?
02.10.2015, 10:57 Uhr
Täglicher Ausnahmezustand: Jeden Tag drängeln sich Hunderte, oft sogar Tausende Flüchtlinge vor dem Berliner Lageso und warten darauf, sich registrieren zu können.
(Foto: picture alliance / dpa)
In der Flüchtlingskrise wirkt die Politik überfordert. Doch die Deutschen wollen wissen, wie es weitergeht. Wenn die Bundesregierung jetzt nicht schnell die Integration Hunderttausender vorbereitet, könnte das Land daran zerbrechen.
Deutschland hilft in diesen Tagen, wo immer es geht und über die Grenzen des Vorstellbaren hinaus. Doch die Euphorie des Sommermärchens, wie es einige Kommentatoren gern nennen, scheint allmählich zu verfliegen. Wie geht es weiter und vor allem wie lange noch, das wollen viele Deutsche wissen. Die Politik wirkt auch Wochen nach dem Beginn der Flüchtlingskrise seltsam ideenlos.
Die deutsche Politik steht vor der größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung. Sie muss jetzt liefern und den Eindruck widerlegen, dass sie den Ereignissen nur hinterherläuft. Sie muss zeigen, dass sie mehr kann, als ihr viele zutrauen. Im besten Fall kann die Politik Leute zurückgewinnen, die das Vertrauen in die Regierenden längst aufgegeben haben. Im schlechtesten Fall kann ihr das Ganze sonst um die Ohren fliegen.
Wenn man deutsche Politiker in diesen Tagen danach fragt, was zu tun ist, hört man starke Sprüche, aber kaum konstruktive Vorschläge. Der CDU-Vize Thomas Strobl sagt etwa: "Gesetze macht bei uns nicht der Prophet." CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer twittert zurzeit im Tagesrhythmus Sätze wie "Die Bereitschaft zur Integration nach den Regeln der deutschen #Leitkultur ist die Grundvoraussetzung fürs Hierbleiben." Beliebt sind in diesen Tagen auch Floskeln wie "Wir brauchen Zuversicht, aber auch Realismus". Es sind Sätze, die Ideenlosigkeit demonstrieren, aber nicht den Hauch einer Lösung enthalten. Die wichtigste Frage ist doch: Wie beendet man den Ausnahmezustand, bevor er zur Regel wird?
Das Chaos kam - mit Ansage
Selbst hinter vorgehaltener Hand sind viele deutsche Politiker zurzeit bemerkenswert ratlos. CDU und SPD rechnen jeweils mit Verlusten bei den Wählern. Sozialdemokraten werfen der Kanzlerin vor, sie würde das Land nicht führen und es nicht wagen, die bitteren Wahrheiten auszusprechen. Sie selbst wollen es aber auch nicht tun. Vor einigen Monaten wäre das Asylpaket richtig gewesen, hört man, und, dass die Frühwarnsysteme versagt hätten. Richtig ist das nicht. Bereits im vergangenen Jahr gab es mehr als 200.000 Asylanträge und damit vier Mal so viele wie 2010. Experten rechneten schon Anfang dieses Jahres mit mehr als einer halben Million Flüchtlinge für 2015. Die Städte forderten damals vergeblich Zehntausende neue Wohnungen. Das Chaos kam - mit Ansage.
Mit dem neuen Asylpaket legt die Bundesregierung jetzt ein ganzes Bündel an Maßnahmen vor. Asylverfahren und Abschiebungen werden beschleunigt, neue sichere Herkunftsländer hinzugefügt und die Kommunen erhalten mehr Geld für die Flüchtlinge. Das Paket regelt viel, aber längst nicht alles, was nötig ist, um die größte innenpolitische Herausforderung der nächsten Jahre zu bewältigen. Es geht jetzt nicht nur um Registrierzentren an den Außengrenzen und Syrien, sondern um die Integration von Hunderttausenden Flüchtlingen in die deutsche Gesellschaft.
Nötig ist eine Integrationsoffensive, wie sie bisher in Europa wohl einmalig wäre. So überfordert die Behörden bei der Ankunft der Flüchtlinge waren, so sehr viel besser muss es nun gelingen, im Land die nötige Infrastruktur zu schaffen, um die neuen Bundesbürger einzugliedern. Hat Deutschland genug Erzieher, Kita-Plätze, Schulen und Lehrer für Zehntausende Flüchtlinge? Gibt es genug Wohnungen? Wie verhindern wir die Entstehung von Ghettos? Gibt es ausreichend Personal, um die Berufsabschlüsse der Zuwanderer schnell bearbeiten und anerkennen zu können? Auf diese Fragen muss die Politik schnell Antworten finden. Das mag eine Herausforderung sein, ist aber gleichzeitig ein großes Investitions- und Beschäftigungsprogramm.
Die Deutschen wollen Erklärungen
Jede Polarisierung beim Thema Flüchtlinge ist falsch. Schon jetzt gibt es Fälle, in denen Mietern von Städten gekündigt wurde, um Flüchtlinge unterzubringen. Es kursieren Vorschläge, dass für Flüchtlinge Ausnahmen vom Mindestlohn gelten könnten. Das muss die Politik auf jeden Fall unterbinden. Flüchtlinge dürfen nicht zum Spielball werden, bevor sie richtig angekommen sind. Ebenso wenig hilfreich ist es, wenn Unionspolitiker unentwegt fordern, Zuwanderern gleich am ersten Tag das Grundgesetz unter die Nase zu halten. Selbst die Mehrheit der Deutschen dürfte noch nie darin geblättert haben.
Und die Kanzlerin? Sie muss vor die Bürger treten. Die Menschen wollen Erklärungen und eine ungefähre Vorstellung, wie es weitergeht. Die Bundesregierung muss alles daran setzen, auch die Skeptiker mitzunehmen und Vorurteile und Politikverdruss zu zerstreuen. Extremistische Parteien, die in diesen Tagen mit dem Frust gegen das "Chaos" kräftig mobilisieren, könnten sonst nachhaltig profitieren.
Vielfach fällt in diesen Tagen der Vergleich zwischen der Kanzlerin und ihrem Vorgänger. Gerhard Schröder stürzte 2005 über die Hartz-Reformen, weil die Deutschen ihm keine Legitimation verschaffen wollten. Angela Merkel muss keine vorgezogenen Neuwahlen herbeiführen. Aber ähnlich wie Schröder riskiert sie viel mit ihrer Asylpolitik mit dem Slogan "Wir schaffen das". Ob das Großprojekt Integration gelingt, wird sich erst in Jahrzehnten sagen lassen. Merkel wird dann nicht mehr Kanzlerin sein.
Quelle: ntv.de