Der Rechtsruck macht Pause Hat der da gerade "Es lebe Deutschland!" gesagt?


"Es lebe Deutschland!" Aber wer hat's gesagt? Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron (l.) im Bundestag, zusammen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
(Foto: IMAGO/Political-Moments)
Der französische Präsident lobt Deutschland und Hunderttausende protestieren bundesweit gegen Rassismus und Faschismus. Sind wir wieder die Guten?
Da ist in den vergangenen Tagen etwas passiert, womit viele nicht gerechnet haben. Die Deutschen saßen eben noch gemütlich über ihrer Kartoffelsuppe, da knüllen sie auf einmal ihre Servietten neben die Teller, stürmen zum Fenster und brüllen in den Himmel, ob wir denn, bitteschön, noch alle Tassen im Schrank hätten. Sie gehen auf die Straße, weil eine braune Linie überschritten wurde. Sie haken sich unter und sind sich einig wie selten: Wir wollen nicht wieder Nazis sein. Deutschland, ein Wintermärchen?
Es war jedenfalls eine insgesamt wohlige Woche fürs deutsche Selbstwertgefühl. Man hörte ausnahmsweise gute Reden im redemuffigen Deutschland. Der früher Bundespräsident Christian Wulff warb auf dem Opernplatz in Hannover für die "Bunte Republik Deutschland", mahnte zur Besinnung auf liberale Tugenden und Vielfalt.
Die andere beachtenswerte Rede hielt der französische Präsident Emmanuel Macron. Es war eine Trauerrede auf Wolfgang Schäuble. Schon der erste Satz donnerte: "Deutschland hat einen Staatsmann verloren. Europa hat eine Säule verloren. Frankreich hat einen Freund verloren." Da hat sich jemand richtig Mühe gemacht.
"Es lebe Deutschland"?!
Macron sagte dann noch etwas, das im Deutschen Bundestag sonst kaum jemals einer sagt, einen ganz ungeheuren Satz: "Vive l’Allemagne!" Es lebe Deutschland!? Uff, uff! Einen Ordnungsruf hat Macron dafür nicht kassiert, dabei ist der Satz eigentlich tabu.
Ich habe in die Protokolle des Bundestags geschaut: Für "Es lebe Deutschland!" gibt es zwei Einträge, soweit ich das sehe. Der eine kommt von Guido Westerwelle, im Jahr 2011, damals war er Außenminister, aber der FDP-Politiker zitierte nur Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, das zählt ja nicht. Sehr wohl zählt dies: "Glückauf! Es lebe Deutschland, unser Vaterland!", sagte der CDU-Politiker Alfred Dregger im Jahr 1994.
Insgesamt sind wir verdruckster als Franzosen und Ägypter. Dabei suchen die Menschen nach etwas, das ihr Leben größer macht, als es ist, schrieb dieser Tage die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Politikredakteur Timo Frasch geht in einem Text der Frage nach, warum alle ständig auf der Palme sind im Land, mutmaßt eine um sich greifende Sinnkrise und preist als mögliche Lösung "mehr Grandezza, bitte" an. Frasch verweist dabei auf Franz Beckenbauer. Dieser habe "Offenheit, Humor, Nachsicht, sich selbst und anderen gegenüber. Auf Deutsch: Grandezza" verkörpert. Was nur so halb stimmt, denn Grandezza ist Italienisch.
Mehr Grandezza, weniger AfD
Aber so etwas ist natürlich genau der Grund, warum man diese Zeitung liest, weil sie regelmäßig hübsche Begriffe abstaubt, die man dann vorsichtshalber googelt. Grandezza, das ist also laut Duden "(besonders von Männern) hoheitsvoll-würdevolle Eleganz der Bewegung, des Auftretens". Klingt super. Also: Mehr Grandezza, das wollen wir auf jeden Fall.
Mehr Grandezza, das hieße automatisch weniger AfD. Denn diese Partei hat gerade das Höschen voll und daher Schwierigkeiten mit der "Eleganz der Bewegung". Die ohnehin zum Lügen, Zetern und Jammern neigende Partei hat dieser Tage sehr viel gelogen, gezetert und gejammert.
Auf die Spitze trieb es Björn Höcke: Er fantasierte über Bildmanipulationen in Pressefotos aus Hamburg. Da stünden Menschen ja "auf der Alster", höhnte Höcke auf X, was allerdings postwendend von der dpa richtiggestellt wurde: Es lag am Blickwinkel. Wie entsetzt wird Höcke erst sein, wenn er eines dieser Fotos sieht, auf dem junge Frauen am Strand die untergehende Sonne zwischen Zeigefinger und Daumen einklemmen?
AfD in Panik
Die Panik der AfD ist allerdings nachvollziehbar, in den Umfragen nach den Demonstrationen gibt sie nach, wobei die Stimmen entgegen mancher Erwartung nicht zur Union wandern. Dennoch, ein Stimmungswechsel ist erkennbar: Noch vor zehn Tagen schien die AfD auf fröhlichem Weg in die Normalisierung zu sein. Damit ist erst einmal Schluss. Braun wählt man wieder allenfalls heimlich - erst einmal.
Niemand sollte sich deshalb zurücklehnen, erst recht nicht die Ampel. Der Rechtsruck macht nur Pause. Im ungünstigsten Fall steht Deutschland auf, die AfD knickt in Umfragen ein, dann legt sich Deutschland wieder hin. Gerade sind in Bayern AfD-Mitglieder an den Verfassungsgerichtshof gewählt worden. Und noch ist das Land längst nicht wieder so selbstsicher wie im Sommermärchen 2006. Dort müsste man aber wieder hin, forderte Uli Hoeneß bei der Trauerfeier für den Grandseigneur der Grandezza, Franz Beckenbauer.
Die Hunderttausenden Menschen auf den Straßen applaudieren auch nicht der Ampel und sie wettern nicht gegen die Union. Die Ampel und ihr Kanzler machen allerdings nicht den Eindruck, als hätten sie das verstanden. Die Koalition streitet nämlich gerade ungebremst weiter, ob über Kindergeld und -freibetrag oder über das Bürgergeld. Auch das Klimageld lässt weiter auf sich warten, hier schieben sich Finanz- und Wirtschaftsminister gerade gegenseitig die Schuld zu.
Besser als jeder denkbare Kanzler
Der Bundeskanzler hält sich nach eigenen Angaben bei der "Zeit" noch immer für den Allergrößten, obwohl seine Berater ihm dem Vernehmen nach zu einer Tour de Demut geraten haben. "Mein Kurs ist aber klar", behauptet Scholz im Interview. "Ich bin ein zäher Kämpfer." Und: "Die Entscheidungen im Kampf gegen irreguläre Migration wären wohl mit keinem anderen Kanzler möglich gewesen." Ja, das muss sie dann wohl sein, die hanseatische Bescheidenheit.
Das Megathema Migration wurde auch nicht einfach wegdemonstriert. Die Bundesregierung hat jetzt zwar endlich ein Gesetz auf den Weg gebracht, um das Scholzsche Versprechen der Abschiebungen "im großen Stil" einzulösen. Doch wie so vieles in der Ampel hat auch dieser Schritt keinen klaren Vektor mehr: Die Grünen haben einen Pflichtanwalt für die Phase der Abschiebehaft hereinverhandelt. Die Union warnt in mehreren Briefen an Kanzler und Bundesinnenministerium vor dieser Pflichtanwaltsidee, denn damit installiere man ein Frühwarnsystem für die Abzuschiebenden, das ganze Vorhaben der Abschiebungen sei damit in Gefahr. Wieder kein Punktsieg für die aufgebrachte Öffentlichkeit also.
Oder vielleicht doch? Der Pflichtanwalt hat ja auch etwas Erhabenes: Der Rechtsstaat lässt sich selbst dann nicht die Augen verbinden, wenn es um von der Öffentlichkeit eingeforderte Abschiebungen geht. Darauf könnte man fast ein wenig stolz sein. Hat es nicht ein wenig hoheitsvolle Würde, wenn wir selbst beim Rauswurf von Ausländern - eine im Konkreten äußerst würdelose Angelegenheit - noch so etwas wie Form und Eleganz wahren?
Ist das dann womöglich … German Grandezza?
Quelle: ntv.de