Visastreit zwischen EU und Türkei "Ankara hat viel zu verlieren"
01.08.2016, 20:14 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Die türkische Regierung fordert vehement die Einlösung der versprochenen Visafreiheit und bringt nun sogar auch eine Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens ins Gespräch. Doch am Ende ist das möglicherweise, wie n-tv.de Redakteurin Judith Görs in ihrem Kommentar zu Erdogan bilanziert, viel Lärm um Nichts. Die deutsche Presse zeigt sich unbeeindruckt von den Drohungen, denn das Flüchtlingsabkommen nützt nicht nur der EU. Doch auch die EU wird kritisiert, die Visafreiheit für das Fortbestehen des Abkommens zu opfern.
Die Berliner "Tageszeitung"spricht sich für eine Einlösung der Visafreiheit aus, um die Flucht für türkische Regierungskritiker und Verfolgte zu erleichtern. "Angesichts der aktuellen Repressionswelle müsste die Visafreiheit eigentlich das Gebot der Stunde sein. Denn sie würde vor allem denen dienen, die unter der Herrschaft Erdogans leiden. Wer in der - berechtigten - Sorge ist, die Verhältnisse am Bosporus entwickeln sich weiter in Richtung Diktatur, der darf es den verfolgten JuristInnen, DozentInnen, JournalistInnen oder KünstlerInnen nicht auch noch unnötig schwer machen, sich in Sicherheit zu bringen. Um Druck auf Erdogan auszuüben, würden sich wirkungsvollere Mittel als die Verweigerung der Visumsfreiheit anbieten - vom sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen bis hin zu harten Wirtschaftssanktionen. Doch davon ist bisher keine Rede. Denn das würde tatsächlich das EU-Türkei-Abkommen riskieren. Am Ende könnte es dazu kommen, dass der Deal hält, ohne dass die Visumsfreiheit kommt. Das wäre die denkbar schlechteste Variante."
Die "Berliner Zeitung" hingegen mutmaßt, dass die türkische Regierung ihr Interesse an der Visafreiheit wieder verlieren könnte, wenn sich abzeichnen sollte, dass dies eine Massenflucht auslöst. "Eine absurde Verknüpfung könnte die Entwicklung noch aufhalten: Wenn die türkische Regierung befürchtet, dass die Visa-Liberalisierung einen Exodus Leistungswilliger und -fähiger auslöst - eine Massenflucht türkischer Bürger vor dem Erdogan-Regime also - könnte es durchaus sein, dass Erdogans Interesse an Reisefreiheit rapide abnimmt. Es wäre ein sehr hoher Preis für die Rettung des EU-Flüchtlingsabkommens."
Die EU sitzt im Streit um die Visafreiheit derzeit am längeren Hebel, schreibt "Die Welt" in ihrem Kommentar. "Brüssel und Berlin reagieren zu Recht gelassen auf die neuen Drohungen. Der Flüchtlingsstrom ist heute viel kleiner als noch vor Monaten. Doch diese Entwicklung ist nicht der Türkeivereinbarung zu verdanken. Vielmehr hält die Schließung der Balkanroute durch Länder wie Mazedonien, Ungarn und Österreich Flüchtlinge davon ab, über die Türkei in die EU einzuwandern. Seit die Weiterreise nach Deutschland und in andere begehrte Ziele kaum mehr möglich ist, zieht Griechenland viel weniger Flüchtlinge an. Die EU zahlt wie vereinbart eine Menge Geld, um die Türkei bei der Versorgung von Flüchtlingen zu unterstützen. Ankara hat somit viel zu verlieren. Einen Bruch mit Europa wird Erdogan allen Drohgebärden zum Trotz nicht riskieren - auch wenn die Visumfreiheit nie kommt."
Auch der Berliner "Tagesspiegel" weist daraufhin, dass die Türkei sich mit einem geplatzten Flüchtlingspakt nur ins eigene Fleisch schneiden würde. "Nicht nur die EU profitiert davon, dass die Türkei seit März ihre Ägäis-Küste stärker kontrolliert und den Schlepperbanden zeigt, dass es sich nicht mehr lohnt, verzweifelte Menschen in Schlauchbooten nach Griechenland zu schicken. Auch für die Türkei selbst bringt das Abkommen Vorteile. Es bewahrt das mit drei Millionen Flüchtlingen bereits stark unter Druck stehende Land davor, als Durchgangsstation Richtung Europa immer neue Menschen aus Asien, Afrika und Nahost anzuziehen. Die türkische Grenze zu Syrien wird seit Monaten strenger überwacht, Tausende Flüchtlinge sitzen in Syrien fest. Wenn die Regierung in Ankara nun tatsächlich den Deal mit der EU aufkündigt, weil Brüssel den visafreien Reiseverkehr für Türken verweigert, handelt sie gegen die eigenen Interessen."
Die "Neue Osnabrücker Zeitung" fordert die EU dazu auf einen kühlen Kopf und damit ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren. "Platzt wegen des Streits um die Visafreiheit für Türken der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei? Es ist nicht das erste Mal, dass Ankara damit droht, wieder mehr Menschen in Richtung Griechenland ziehen zu lassen. Passiert ist das bisher nicht, doch haben sich die Rahmenbedingungen geändert: Nach dem Putschversuch liegen die Nerven bei vielen Politikern in Ankara blank. Das erhöht die Unsicherheit. Die EU ist gut beraten, sich nicht erpressen zu lassen. Denn das würde ihre Glaubwürdigkeit erschüttern. Zudem ist das Drohpotenzial eines Bruchs des Flüchtlingspakts deutlich gesunken, seitdem die Balkan-Route für Migranten geschlossen ist. Es ist deshalb richtig, Ruhe zu bewahren und weiter im Gespräch zu bleiben."
Zusammengestellt von Stefanie Rosenthal
Quelle: ntv.de, sro