Arznei bei tödlicher Krankheit Sozialgericht räumt Medikamenten-Sicherheit Vorrang ein
29.06.2023, 18:23 Uhr Artikel anhören
Das Bundessozialgericht hob den hohen Wert des Zulassungsverfahrens hervor.
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Ein junger Mann will von seiner Kasse ein Medikament, von dem er sich zumindest eine leichtere Linderung seiner unheilbaren Krankheit verspricht. Doch es ist nur zur Behandlung in einem früheren Stadium zugelassen - die Kasse weigert sich. Das Bundessozialgericht bewertete den Fall nun.
Versicherte haben bei einer regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit keinen Anspruch auf die Versorgung mit einem Arzneimittel, das die EU-Arzneimittelbehörde (EMA) zur Behandlung dieser Erkrankung nicht zugelassen hat. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden. Der inzwischen 18-Jährige Kläger leidet an Duchenne-Muskeldystrophie. Die erblich bedingte Muskelerkrankung mit zunehmendem Muskelschwund führt typischerweise im jungen Erwachsenenalter zum Tod. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 28 Jahren.
Der Kläger ist seit 2015 gehunfähig. Er verlangte von seiner Krankenkasse die Kostenübernahme des Arzneimittels Translarna. Dies würde rund 170.000 Euro pro Jahr kosten. Das Medikament trägt dazu bei, dass wenigstens etwas des Muskelaufbaustoffs gebildet wird. Das Medikament ist in der EU für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie zugelassen, jedoch nur für gehfähige Patienten. Bei EMA hatte der Hersteller ursprünglich eine Erweiterung der Zulassung beantragt. Nachdem ein Gutachten der Behörde feststellte, dass hierfür die Datenlage nicht ausreicht, betrieb der Hersteller die Zulassungserweiterung aber nicht mehr weiter.
Das Sozialgericht Mainz hatte die Klage auf Versorgung mit Translarna abgewiesen. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz verurteilte die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland hingegen, den Kläger mit dem Medikament zu versorgen. Es bestehe eine auf Indizien gestützte Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung. Dies reiche bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten aus, den Anspruch zu begründen, so die Richter. Die Ablehnung der Erweiterung der Zulassung auf nicht mehr gehfähige Patienten durch die EMA entfalte keine Sperrwirkung, da sie nicht auf einer aussagekräftigen Datenlage beruhe und seither neue Hinweise auf eine positive Wirkung des Arzneimittels erlangt worden seien.
Der 1. Senat des BSG hob dieses Urteil nun auf und gab der Arzneimittelsicherheit auch bei regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen Vorrang. Der Antrag des Klägers scheitere an der Sperrwirkung des Arzneimittelzulassungsgesetzes, begründete der Vorsitzende Richter die Entscheidung. Habe ein Antrag auf Erweiterung der Zulassung keinen Erfolg, sei damit auch eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Verlauf der Krankheit zu verneinen. Andernfalls faktisch ausgehebelt, so der Richter. Die Sperrwirkung könne überwunden werden, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, die nach der EMA-Entscheidung veröffentlicht werden. Das sei im vorliegenden Verfahren nicht der Fall.
Ein vergleichbarer Fall ist derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Mit Blick darauf hatten die Kasseler Richter angekündigt, sie wollten ihre bisherige Rechtsprechung nochmals überdenken.
Quelle: ntv.de, jwu/dpa/AFP