Terrorgeschütteltes Frankreich Kann diese EM ein fröhliches Fest werden?
12.06.2016, 16:35 Uhr
Deutsche Polizisten sind derzeit ebenfalls in Frankreich im Dienst - wie hier in der Innenstadt von Lille.
(Foto: AP)
Die EM findet in einem Land statt, das sich seit den Anschlägen am 13. November 2015 im Ausnahmezustand befindet. Frankreich ist ein Hochsicherheitstrakt, der sich nach ungetrübter Euphorie sehnt. Doch es dominieren Anspannung und Sorge.
Der Jubel im Park Henri Matisse, dort, wo die Uefa neben den beiden großen Bahnhöfen Lille-Europe und Lille-Flandres ihre Fanmeile errichtet hat, ist einen Kilometer entfernt gut zu hören. Es ist Samstag, 22.29 Uhr, Eric Dier hat gerade in Marseille das 1:0 für England gegen Russland erzielt. Die Europameisterschaft in Frankreich ist angelaufen, sie soll größer und toller werden als ihre Vorgängerinnen; mit 24 statt 16 Teams, mit 51 Partien in vier Wochen. Heute ab 21 Uhr (Liveticker bei n-tv.de) tritt die deutsche Mannschaft in ihrem ersten Spiel gegen die Ukraine an. Wie startet der Weltmeister ins Turnier? Lässt Bundestrainer Joachim Löw Mario Gomez und Mario Götze spielen? Was macht die Abwehr? Toll, ein Fußballfest.
Ein Fest? Wie soll das gehen? Frankreich, Europas terrorgeschüttelte Nation, ist angespannt. Am Nachmittag gab es die Krawalle in Marseille. Seit dem 13. November ist alles anders, seit die Verbrecher des selbst ernannten Islamischen Staats bei ihren Anschlägen in Paris 130 Menschen töteten und auch versuchten, ins Stade de France in Saint-Denis zu kommen, in dem die französische gegen die deutsche Elf spielte. Ich habe auf der Pressetribüne die Detonationen gehört, ohne sie zuordnen zu können; habe die Nachrichten gelesen, die immer schrecklicher wurden, bis auch mir das Ausmaß des Schreckens bewusst wurde; habe bis zwei Uhr nachts im Stadion ausgeharrt, weil ich Angst hatte, durch Paris zu meinem Hotel zu fahren. Tags drauf habe ich eine Stadt gesehen, die trauert; in einem Land, das sich seitdem im Ausnahmezustand befindet, im Krieg gegen den Terror, wie es Präsident François Hollande sagte und bisher nicht zurückgenommen hat.
Was mich beruhigen soll, macht eher Sorge
Und das ist auch der Grund, warum ich an diesem Samstagabend in meinem Apartment sitze, unweit der Fanmeile in Lille, und nicht bei den Fans im Park Henri Matisse stehe. Es ist dieses komische Gefühl zwischen Anspannung, Ungewissheit und Sorge. Nicht nur bei mir, auch bei meiner Familie. Das beschäftigt mich. Und mich beschäftigt die Frage, ob diese EM es schaffen kann, ein fröhliches Fest zu werden. Die Antwort ist Nein. Wie soll das gehen? Die Stadien und auch die Fanzonen sind Hochsicherheitstrakte. 90.000 Kräfte sollen in diesem Wochen dabei helfen, dass in Frankreich nichts passiert: 70.000 Polizisten, 10.000 Soldaten und 10.000 Angestellte von privaten Sicherheitsdiensten. Das französische Innenministerium hat eine App fürs Handy entwickeln lassen, mit der Nutzer vor Terroranschlägen gewarnt werden sollen. Was mich beruhigen soll, macht eher Sorge.

Deutsche Polizisten kontrollieren Autos auf dem Weg nach Frankreich, hier an der A64 in Rheinland-Pfalz
(Foto: dpa)
Das beginnt schon bei der Reise nach Lille, mit dem Flugzeug von Berlin nach Brüssel - auch so ein Ort des Terrors. Am Flughafen Zaventem in der belgischen Hauptstadt stehen Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag und beobachten die Reisenden. Hier sprengten sich am 22. März, vor nicht einmal drei Monaten, zwei Terroristen in die Luft; ein weiterer tat das in der Brüsseler Innenstadt. 25 Menschen starben. Auch am Bahnhof Lille-Europe, mit Blick auf die Fanmeile im Park: überall Polizei und Soldaten. Aber es gibt auch die andere, die fröhliche Seite. Und die ist viel offensichtlicher als die im Moment abstrakte Bedrohung, man kann sie sehen. Das ist die gute Nachricht: Alles ist wie immer in einer Stadt vor einem Spiel bei einem großen Turnier, so wie vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Brasilien und vor vier in Polen und der Ukraine.
Alles wirkt friedlich - warum auch nicht?
Sonntagmittag auf dem Place du Théâtre in Lilles sehr hübscher Innenstadt: Die ukrainische Fanbotschaft und die der Deutschen stehen friedlich nebeneinander. Die Ukrainer sind offenbar Frühaufsteher und haben ihren Container längst geöffnet, als die deutschen Kollegen um kurz vor zwölf anfangen, ihren Stand aufzubauen. Fans aus beiden Ländern schlendern über den Platz, fotografieren sich gegenseitig und bisweilen auch miteinander. Ja, Polizisten sind da, auch deutsche, aber sie und ihre französischen Kollegen dienen eher als Fremdenführer. "Zur Place Charles de Gaulle einfach geradeaus." Ansonsten: dezente Präsenz, beileibe nicht an jeder Ecke. Und wenn, dann in Zivil. Das sind mutmaßlich die Männer mit dem Knopf im Ohr. Private Sicherheitsmenschen stehen ebenfalls auf dem Platz, sie sehen, mit Verlaub, so aus, wie sie oft aussehen: schwarzes T-Shirt, schwarze Cargohose, schwarze Sonnenbrille, schwarze Handschuhe, bemüht lässig.
Kurzum, alles wirkt wohltuend friedlich. Warum auch nicht? Der Terror ist so lange nicht sichtbar, bis er zuschlägt. Aber wirkt perfide in den Köpfen der Menschen. Zumindest kann er das. In Lille bei den Fans allerdings ist er kaum ein Thema. Es geht eher darum, wie man am Abend zum Stade Pierre-Mauroy kommt und ob es noch Karten gibt. Gerd Wagner vom Team Fanbotschaft sagt: "Natürlich haben wir uns vorher auch unsere Gedanken gemacht." Aber aktuell sei das Thema Sicherheit bei denen, die an ihren Stand kämen, einfach keins. "Die, die hier sind, haben sich ja schon entschieden."
Es könnte alles so schön sein, ein Fußballfest eben. Und doch stellt sich die Frage, ob der Augenschein trügt. Das komische Gefühl bleibt, weil sich der Gedanke im Kopf festgesetzt hat: Was wäre, wenn? Wenn sie wieder zuschlagen, so wie am 13. November in Paris. Das Beste, was den Menschen und dieser EM passieren kann, wäre, wenn wir hinterher sagen könnten: Zum Glück ist nichts passiert. Das Beste, was von dieser Hochsicherheits-EM bleiben kann, ist Erleichterung. Und heute Abend geht es dann erst einmal wieder darum, wie die DFB-Elf das Turnier beginnt und ob der Bundestrainer mit zwei Spitzen spielen lässt.
Quelle: ntv.de