Der Außenseiter sorgt für die Sensation: Österreich überrumpelt in Gruppe D die Fußball-Schwergewichte Niederlande und Frankreich und zieht als Gruppensieger ins EM-Achtelfinale ein. Gegen Oranje glänzt die Mannschaft von Trainer Ralf Rangnick mit Dauerdruck und Widerstandsfähigkeit.
Die drei österreichischen Fans in der S-Bahn zum Berliner Olympiastadion hatten da so eine Vorahnung. "Heute sind die Niederländer fällig", spekulieren sie, ohne zu wissen, welches Spektakel sie gleich erwartet. Mit 3:2 (1:0) ringen Österreichs Fußballer die Elftal in einem nervenaufreibenden Spiel nieder, krönen sich damit zugleich sensationell zum Sieger der Gruppe D. "Das ist eigentlich unglaublich", sagt Nationaltrainer Ralf Rangnick: "Wir wollen zeigen, was in dieser Mannschaft ist und so weit kommen wie möglich", so die ursprüngliche Zielsetzung: "Jetzt sind wir Gruppensieger geworden." Ein Erfolg, den nur die wenigsten den ÖFB-Kickern zugetraut hätte.
Doch weil Vize-Weltmeister Frankreich im Parallelspiel gegen Polen (1:1) eine Führung vergibt, zieht Österreich in der Tabelle an Oranje und Les Bleus vorbei und verwandelt das Finalstadion dieser Europameisterschaft in eine rot-weiß-rote Partyzone. Noch weit nach Schlusspfiff schallt ein freudetrunkenes "Oh, wie ist das schön" aus den österreichischen Fanblocks. Und als der Nationaltrainer die Treppe neben dem Marathontor hinaufschreitet, gibt es "Ralf Rangnick"-Sprechchöre und ausdauernden Applaus. Sie sind auch der Lohn dafür, dass der 65-Jährige seiner Mannschaft eine taktische Ausrichtung und ein Selbstvertrauen vermittelt hat, das beeindruckt. An diesem Dienstagabend vor allem den Gegner.
Die Niederlande scheinen gar nicht zu wissen, wie ihnen geschieht, da liegen sie schon zurück. Durch ein Eigentor von Donyell Malen, der in der 6. Minute vergeblich versucht, eine Flanke von Alexander Prass zu klären und sie stattdessen im eigenen Tor versenkt. Die hohe Intensität, das aggressive Pressing über den gesamten Platz, das unermüdliche Anlaufen der Österreicher zeigt Wirkung: Die Elftal findet in den ersten 20 Minuten kein Mittel, um sich aus dem Dauerdruck zu lösen. Das Auffälligste an der niederländischen Offensive ist lange das leuchtend weiße Stirnband von Memphis Depay.
Die Red-Bull-Schule hilft Rangnick und Österreich
Dass Rangnick durchaus überraschend mit Christoph Baumgartner den überragenden Mann des 3:1-Erfolgs gegen Polen zunächst auf die Bank setzt und auch Konrad Laimer erstmal zuschaut, fällt dabei gar nicht auf. Im Gegenteil: Die Österreicher schieben konsequent vor und zwingen den Niederländern ihr Spiel auf. Schon nach 15 Minuten stimmen die Fans ihr markantes "Immer wieder, immer wieder, immer wieder Österreich" an - was auch auf das Pressing zutrifft, mit dem die Oranje-Viererkette und auch Torwart Bart Verbruggen immer wieder zu langen Bällen gezwungen werden, weil immer wieder jemand auf sie zusprintet.
Dabei kommt Rangnick natürlich zugute, dass ein bedeutender Teil des ÖFB-Kaders die Red-Bull-Schule durchlaufen hat, also in Salzburg oder Leipzig für die Fußballprojekte des Milliardenkonzerns aktiv war oder ist. Acht Profis sind es insgesamt, sieben davon kommen gegen die Niederlande zum Einsatz. Sie wissen genau, was sich der Ideengeber Rangnick vorstellt. Das Nach-Vorne-Verteidigen ist ein unverkennbares Markenzeichen des Rangnick-Fußballs. Was Österreich darüber hinaus gegen die Niederlande unter Beweis stellt: eine absolute Gewinnermentalität und die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen.
Einen solchen gibt es gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit, als sich ausnahmsweise einmal die Österreicher überrumpeln lassen. Und zwar, weil der - schon nach 33 Minuten - eingewechselte Xavi Simons im Zentrum viel zu viel Platz bekommt, von einem Strafraum zum anderen dribbelt und nach links ablegt auf Cody Gakpo. Der Liverpool-Stürmer zieht nach innen und mit rechts ab, Patrick Pentz im Tor kann in dieser 47. Minute nichts mehr rennen. Wer jetzt jedoch erwartet, dass die Partie zugunsten des Favoriten kippt, liegt falsch. "Was mich heute am meisten beeindruckt hat, waren die Reaktionen meiner Mannschaft auf die jeweiligen Ausgleichstreffer", sagt Rangnick hinterher.
"Immer wieder, immer wieder, immer wieder Österreich"
In einer Spielunterbrechung scheinen sich Nicolas Seiwald, Florian Grillitsch und Maximilian Wöber zu beraten, auch Patrick Wimmer und Marcel Sabitzer werden in das Gespräch mit einbezogen. Die Anfangsphase der zweiten Halbzeit dominieren die Niederländer, ohne ein zweites Tor zu erzielen - ehe die Österreicher in der 59. Minute mit ihrem ersten gefährlichen Angriff nach dem Seitenwechsel wieder in Führung gehen. Auf der linken Seite kombinieren sie sich in den Strafraum, Grillitsch flankt und Romano Schmid köpft aus kürzester Distanz ein. Österreich zieht in der Tabelle wieder an den Niederlanden vorbei, liegt zwischenzeitlich auf Platz zwei, weil Frankreich durch Maskenmann Kylian Mbappé im Parallelspiel gegen Polen in Führung gegangen ist.
In der 63. Minute wechselt Rangnick dreifach. Er nimmt unter anderen den gelb-rot-gefährdeten Wimmer vom Platz, bringt dafür mit Baumgartner und Laimer ein Duo, das eigentlich aus der Startelf nicht wegzudenken ist. "Immer wieder, immer wieder, immer wieder Österreich" singen die Rot-Weiß-Roten auf den Tribünen, doch es sind die Niederländer, die als Nächstes zuschlagen. Wout Weghorst ist für den Eigentorschützen Malen gekommen, soll mit seiner Körperlichkeit und Wucht die Bälle im Sturmzentrum sichern.
In der 75. Minute gelingt ihm das perfekt: Weghorst legt eine Flanke im Strafraum per Kopf auf Depay ab, der aus knapp zehn Metern zum 2:2-Ausgleich trifft. Doch der Jubel wird jäh unterbrochen, weil ein Handspiel vermutet wird. In der Wiederholung scheint recht schnell klar erkennbar, dass Depay nicht mit der Hand am Ball, trotzdem wird minutenlang überprüft und Schiedsrichter Ivan Kruzliak sogar selbst noch gebeten, sich die Szene anzuschauen. Danach deutet er zur Spielfeldmitte, es geht mit Anstoß für Österreich weiter.
Ein defensiver Kopfball als Ausdruck der Stärke Österreichs
Der niederländische Jubel ist kaum verklungen, da schlagen die Rot-Weiß-Roten erneut zu. Wieder über die linke Seite, der inzwischen mit der Kapitänsbinde ausgestattete Marcel Sabitzer spielt einen Doppelpass mit Baumgartner und hat plötzlich freie Bahn zum Tor. Wuchtig zieht er mit dem linken Fuß aus spitzem Winkel, Verbruggen reißt die Arme vergeblich hoch, Österreich geht zum dritten Mal in Führung (80.). Oranje verstummt, während rund um das Marathontor kein Halten mehr ist. "Unsere Spielweise ist nicht unbedingt darauf ausgerichtet, auf einen Punkt zu spielen", hat Rangnick noch vor der Partie betont, seine Mannschaft untermauert dies eindrucksvoll.
Wie schon gegen Polen stimmen Tausende ein "Oh wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen" an - immerhin ist ihre Elf mit diesem Treffer plötzlich Gruppenerster. Robert Lewandowski hat im Parallelspiel per Strafstoß ausgeglichen, Österreich zieht an Frankreich und den Niederlanden vorbei. In der 83. Minute fällt sogar das vermeintliche 4:2, wieder über links und wieder aus spitzem Winkel - Baumgartner weiß schon beim kurzen Jubelimpuls, dass er einen halben Schritt zu weit vorne stand. Abseits, kein Tor.
Dem Spektakel hätte dieser Treffer sicherlich die Krone aufgesetzt, am Ausgang dieses Spiels ändert die Aberkennung nichts mehr. Die Österreicher stellen ihr Pressing in der Schlussphase weitgehend ein, ziehen sich tief in die eigene Hälfte zurück. Ein Flugkopfball von Weghorst rauscht am Tor vorbei, Gakpo kommt nicht zum Abschluss und bei Prass ist das Selbstvertrauen in einer Szene so groß, dass er eine niederländische Flanke zu Torhüter Pentz zurückköpft, statt sie einfach nur irgendwie ins Aus zu bolzen.
Mit den Fans singen die Fußballer vor der Kurve einen Klassiker
Der Schlussakt ist dann Sabitzer und Baumgartner vorbehalten, die auf dem rechten Flügel ein paar Sekunden von der Uhr nehmen, bis der Unparteiische genug gesehen hat und abpfeift. Die österreichische Bank stürmt auf das Feld, weil sie wissen: Es geht nicht einfach "nur" ins Achtelfinale, sondern als Sieger der Gruppe D vor Frankreich, den Niederlanden und Polen. Nach drei überzeugenden Auftritten, die Mut für die K.-o.-Runden machen dürften.
Daran dürften Fußballer und Fans allerdings noch keinen Gedanken verschwenden, als sie sich nach Schlusspfiff in der Kurve versammeln und den Reinhard-Fendrich-Klassiker "I Am From Austria" singen, der die ÖFB-Kicker durch diese EM in Deutschland begleitet. In der Runde der letzten 16 geht es gegen den Zweiten der Gruppe F, mögliche Gegner am 2. Juli um 21 Uhr in Leipzig (MagentaTV und im Liveticker bei ntv.de) sind die Türkei, Georgien und Tschechien.
Ein mögliches Duell mit Gastgeber Deutschland, in dessen Bundesliga ja gleich zwölf Österreicher aktiv sind, hatten die drei Fans in der S3 Richtung Olympiastadion übrigens auch schon auf dem Schirm. Sie gingen allerdings davon aus, dass das wohl im Halbfinale anstehen würde, sollten die beiden Nachbarländer so weit kommen. Der Blick auf den Turnierbaum verrät allerdings, dass sie sich infolge des sensationellen österreichischen Gruppensieges jetzt nur noch im Endspiel in Berlin treffen können. Aber mit solch einem Spektakel hatte das Trio vermutlich nicht gerechnet.
Quelle: ntv.de