EM-Analyse mit Hickersberger "Unterschied zwischen Kimmich und Lahm"
22.06.2016, 07:27 Uhr
Schrei vor EM-Glück: Thomas Müller und Siegtorschütze Mario Gomez.
(Foto: REUTERS)
Auch wenn der Gegner nur ein "Sparringspartner" ist und es einen "großen Makel" gibt: Gegen Nordirland meldet sich Weltmeister Deutschland endlich bei der Fußball-EM an, findet n-tv.de Experte Josef Hickersberger. Die Selbstkritik von "Chancentod" Thomas Müller nennt er übertrieben, ein Held in Strumpfhosen begeistert ihn – und mit Bundestrainer Joachim Löw leidet er ein wenig.
n-tv.de: Herr Hickersberger, die Frage haben Sie sich als Österreicher womöglich noch nie gestellt, aber: Wären sie in Ihrer Fußballkarriere lieber Weltmeister oder Europameister geworden?
Hickersberger: (atmet durch) Am liebsten wäre ich beides geworden. Aber wenn die Frage so gestellt wird, würde ich mich für Weltmeister entscheiden.

Zwischen 1987 und 1990 sowie zwischen 2006 und 2008 war Josef Hickersberger Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. Für n-tv.de analysiert er die deutschen EM-Spiele.
(Foto: imago sportfotodienst)
Wir fragen deshalb, weil die deutschen Spieler neuerdings den WM-Titel kleinreden und sich über die zu hohe Erwartungshaltung beschweren. Darf man von einem Fußball-Weltmeister bei einer EM wirklich nur so ein Gekrampfe wie gegen die Ukraine und Polen erwarten?
Ich glaube, dass man auch als Fußball-Weltmeister solche Spiele abliefern kann. Aber natürlich ist die Erwartungshaltung etwas größer als bei anderen Teams.
Hatte Sie die DFB-Elf in den ersten beiden Spielen überzeugt?
Na keineswegs! Aber es war auch nicht zu erwarten, dass die Mannschaft sofort von Beginn weg auf Weltmeisterniveau spielt. Sie hat ja auch in Brasilien trotz des furiosen Auftakts eine Zeitlang gebraucht, um ins Turnier zu finden. Ich hab einen ähnlichen Verlauf auch bei der Europameisterschaft erwartet.
Gegen Nordirland hat sich die DFB-Elf nun formverbessert gezeigt und phasenweise ein Offensivspektakel geboten. War Deutschland plötzlich so gut oder der Gegner so schwach?
Beides. Die Nordiren waren kein Gegner, sondern eher ein Sparringspartner. Und Deutschland war im Vergleich zu den beiden ersten Spielen wirklich stark verbessert. Es hat wirklich wieder nach gutem Fußball ausgesehen. In der Offensive hat im letzten Drittel erstmals sehr vieles gestimmt. Die große Anzahl von Torchancen hat man ja kaum zählen können. Da hätte man schon einen Taschenrechner gebraucht, um das alles mitzubekommen.
Ist jetzt der EM-Knoten geplatzt?
Das könnte man sagen, es hat eigentlich alles gestimmt bis auf kleinere Wermutstropfen wie leichtfertige Ballverluste und Schlampigkeitsfehler. Ich habe das Gefühl gehabt, dass einige Spieler den Kritikern zeigen wollten, dass sie richtig heiß waren. Der einzige große Makel war, dass man nicht vier, fünf oder noch mehr Tore geschossen hat. So viele Gelegenheiten nicht zu nutzen, das ist atypisch.
Als Chancentod hat sich insbesondere Thomas Müller hervorgetan, der immer noch ohne EM-Treffer ist. Wann platzt sein Knoten?
Ich bin überzeugt, dass der Müller jetzt noch einige EM-Tore erzielen wird. Er hat jetzt erstmals Chancen vorgefunden, aber sehr viel Pech gehabt mit dem Kopfball an die Stange und dem Schuss an die Latte. Aber er hat im Vergleich zu den ersten Spielen wieder Räume gefunden, obwohl es keine gegeben hat und die Nordiren wie die Polen mit Sechserkette gespielt haben.
Woran lag das?
Müller ist zugutegekommen, dass er vorne einen zweiten Stürmer gehabt hat, den Mario Gomez. Der hat sehr viele Gegner auf sich gezogen, da war es für ihn viel leichter. Und dass auf der rechten Abwehrseite der Joshua Kimmich seine Aufgabe sehr gut erledigt hat, obwohl er kein Spezialist auf dieser Position ist, ist natürlich für einen Spieler wie Müller ein Segen.
Ist Kimmich der Rechtsverteidiger, nach dem sich Fußballdeutschland seit dem Lahm-Rücktritt gesehnt hat?
Er ist es natürlich nicht. Zwischen Kimmich und Lahm gibt es - noch - einen großen Unterschied. Aber er hat diese Rolle sehr gut ausgefüllt, obwohl er kein rechter Verteidiger ist, sondern ein polyvalenter Spieler, von denen es jetzt so viele gibt. Kimmich kann vom Spielertyp her in der Offensive viel mehr machen als Höwedes. Er hat sich weitere Chancen verdient.
Sollte Bundestrainer Löw im Achtelfinale an seiner veränderten Startelf mit Gomez für Julian Draxler und Kimmich für Benedikt Höwedes festhalten?
Es gibt keinen Grund, es nicht zu tun. Beide Umstellungen sind als gelungen zu bezeichnen, aber es war natürlich auch insgesamt eine viel bessere, konzentriertere Mannschaftsleistung. Das einzige, was nicht gepasst hat, war die Chancenverwertung. Sonst hat die Mannschaft sehr gut funktioniert. Die könnte auch im Achtelfinale in dieser Aufstellung erfolgreich sein.

Bundestrainer Joachim Löw lobt antizyklisch. Ein gutes Rezept gegen Spannungsabfall, findet EM-Experte Hickersberger.
(Foto: imago/Moritz Müller)
Löw war anders als nach den Partien gegen die Ukraine und Polen extrem kritisch mit seinem Team. Muss man als Nationaltrainer in einem Turnier schlechte Spiele schönreden und gute Spiele schlecht, um Erfolg zu haben?
Das ist kein schlechtes Rezept, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Vielleicht war er auch ein bisschen genervt, weil sich die Mannschaft für die gute Leistung nicht richtig belohnt hat. Ich hab zwar nie das Gefühl gehabt, dass die Nordiren ein Tor schießen könnten. Aber 1:0 ist kein Spielstand, bei dem man als Trainer den Abend genießen kann.
Die Uefa hat Mesut Özil zum Man of the Match gekürt. Wer wäre Ihre Wahl gewesen?
(räuspert sich) Für mich Thomas Müller, weil er einfach nur Pech gehabt hat.
Obwohl er selbst gesagt hat, bei zwei seiner vier vergebenen Großchancen wäre auch Unvermögen dabei gewesen?
Er hat natürlich ein anderes Selbstverständnis als "normalere" Spieler. Er ist ein besonderer Spieler, das ist schon sehr viel Selbstkritik. Überzogene Selbstkritik. Der ist unverzichtbar, alles andere wären Schnapsideen.
Sie haben die Nordiren als Sparringspartner bezeichnet. Trotzdem stehen sie ebenfalls im Achtelfinale. Hat diese Mammut-EM tatsächlich noch ein höheres Niveau als eine WM, wie Manuel Neuer vor dem Spiel behauptet hat?
Bis jetzt habe ich nicht den Eindruck. Ich hoffe, dass nicht noch einmal aufgestockt wird. Sonst spielen bei einer EM dann auch Liechtenstein und Andorra mit. Dann spielen alle mit.
Auch die Färöer.
Das wäre für Österreich natürlich noch eine größere Katastrophe.
Kroatien hat gegen Titelverteidiger Spanien überraschend gewonnen. Ist die kroatische Mannschaft jetzt der große Titelfavorit?
Man muss die Kroaten früher oder später auf alle Fälle schlagen, wenn man Europameister werden will. Aber der Spielverlauf war für Kroatien auch sehr glücklich.
Doppeltes Pech für Spanien: Im Achtelfinale geht es jetzt gegen Italien.
Das ist ein vorweggenommenes Finale.
Wird es wieder so deutlich wie im Endspiel 2012?
Ein 4:0 wird diesmal nicht passieren, das wird ein ganz enges Spiel. Da kann der Sieger durchaus auch Italien heißen.
Höchst erfreulich an den Ergebnissen in Gruppe D war für Ihre Österreicher der Sieg der Türkei über Tschechien. Mit einem Erfolg gegen Island kann Österreich nun aus eigener Kraft weiterkommen. Klappt das?
Das könnte klappen, obwohl die bisherigen Leistungen gegen Ungarn sehr schwach und gegen Portugal höchst glücklich, aber zumindest kämpferisch in Ordnung waren. Wir haben uns unseren Geheimfavoriten schon längst abgeschminkt. Jetzt geht es nur noch darum, irgendwie ein Tor zu schießen - und gegen Island zu gewinnen.
Hatten Sie gegen Portugal insgeheim auf einen Pepe-Ausraster gehofft?
Schon. Aber der hatte nicht einmal die Chance auszurasten, weil wir ihn zu wenig beschäftigen oder ärgern konnten.
Zum Abschluss noch eine Modefrage: Was hat Ihnen besser gefallen - die Strumpfhosen von Jerome Boateng oder die Trikots der Spanier?
Das war beides nicht der richtige Modeknüller.
Hätte der Trainer Hickersberger dem Spieler Boateng die Strumpfhosen erlaubt?
Ja, warum nicht! Ich hab selten einen Boateng gesehen, der so stark ist wie jetzt. Überhaupt noch nicht! Absolute Weltklasse. Wie er von hinten das Spiel aufbaut, welche Pässe er spielt. Sensationell. Wenn er mit seiner Strumpfhose so spielen kann, wie er spielt, und wenn er glaubt, dass er das braucht - da drückt man doch beide Augen zu.
Das wird ihn freuen, wenn er das bei uns liest.
(lacht) Das hoffe ich!
Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf
Quelle: ntv.de