
Die jungen Frauen leben ihren Traum vom Fußball.
(Foto: Anja Rau)
Die Fußball-Welt ist zu Gast in Melbourne. Doch die FIFA ignoriert, dass es Spielerinnen in der Stadt gibt, die von der Chance auf eine WM-Teilnahme, sogar nur von einer Reaktion des Weltverbandes, nur träumen können. Dabei würde das Team geflüchteter Afghaninnen den Taliban so gern eine Ohrfeige verpassen.
Hinter dem Tor steigen die Wolkenkratzer Melbournes in den Himmel, das Rectangular Stadium am Fluss Yarra liegt nur knapp sechs Kilometer entfernt. In der 30.000 Zuschauer fassenden Arena werden insgesamt sechs Spiele dieser Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen in Australien und Neuseeland ausgetragen, darunter der Auftakt der Deutschen gegen Marokko am Montag (10.30 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker). Doch das Turnier ist hier, auf dem Princes Park Oval #1 nördlich der Innenstadt, ganz weit weg.
Zehn Grad und teils heftiger Regen sind die Wetterbedingungen an diesem Sonntagvormittag, das Feld gleicht eher einem Acker, fällt zur einen Seite deutlich ab. Zwei Gartenbänke stehen für die Auswechselspielerinnen und ihre Trainer am Rand. Der Schiedsrichter hat eine freiwillige Linienrichterin des Gastgeber-Teams zur Seite stehen, weitere Hilfe gibt es ebenso wenig wie etwa Zuschauertribünen oder auch nur eine Unterstellmöglichkeit. Bezirksliga lässt grüßen - und doch ist hier Weltfußball zu beobachten.
Aus Afghanistan in die Melbourne-Liga

Die Skyline der Stadt ist sowohl vom WM-Stadion als auch von hier aus zu sehen - und doch trennt die Orte Welten.
(Foto: Anja Rau)
Das Team von Melbourne University tritt an diesem Spieltag der Frauen-Landesliga 3 Ost nämlich gegen Melbourne Victory FC AWT an. Die drei Buchstaben am Ende verraten das Besondere: AWT - Afghan Women's Team. Die Spielerinnen sind allesamt Afghaninnen, die vor fast zwei Jahren nach der Machtergreifung der Taliban aus ihrer Heimat nach Australien flüchten konnten. Dank der Organisation der früheren Nationalspielerin Khalida Popal, die schon 2016 nach Dänemark geflüchtet war und einem Helfernetzwerk mit einer US-Marine, einer Menschenrechtsanwältin und Vertretern der internationalen Spielergewerkschaft FIFPro war Australien bereit, mehr als 50 Sportlerinnen Visa auszustellen. Auch die Fußballerinnen sind darunter, als die dramatische Rettung über Dubai gelingt.
Sie werden in der zweitgrößten Stadt Australiens vom Klub Melbourne Victory aufgenommen, die Gemeinschaft versucht, ihnen eine neue Heimat zu bieten. "Wir sind sehr dankbar, dass wir in einer friedlichen Stadt leben dürfen, dass wir studieren oder arbeiten dürfen", sagt Spielerin Mursal im Interview mit ntv.de. "Wir haben hier ein gutes Leben, mit all der Hilfe, die wir bekommen, mit der Unterstützung von Melbourne Victory und der Gemeinschaft."
Aber natürlich fehlt die Heimat, die sie unfreiwillig verlassen haben. Es sei noch immer hart, die meisten Familien weit weg, geflüchtet in die Nachbarländer Afghanistans, trennen die jungen Frauen jetzt Tausende Kilometer von ihren Liebsten. "Nicht alle Frauen verkraften das mental gut", erklärt Mursal. Sie machen sich selbst großen Druck, wollen ihre Familien so gut es geht unterstützen, schicken Geld, wissen aber, dass sie sie nicht nach Australien holen können. "Niemand verlässt sein Zuhause freiwillig, es ist das Wertvollste, was man besitzt, - es sei denn, man ist in Gefahr. Ich vermisse so vieles, also ja, ich hoffe, dass Afghanistan eines Tages frei sein wird und ich zurückkehren kann, alle Orte besuchen kann, die ich so sehr liebe", sagt die 20-Jährige.
"Traurig, dass die FIFA uns komplett ignoriert"
Und noch etwas fehlt: Afghanistan auf der offiziellen Fußball-Weltkarte. Zumindest bei den Frauen. Die Verantwortung dafür trägt die FIFA. Während der Weltverband die Männermannschaft bei von ihm anerkannten Wettbewerben teilnehmen lässt, zuletzt im Juni am Nationenpokal 2023 des Zentralasiatischen Fußballverbands, ignoriert er das Team von Melbourne Victory völlig. Briefe, Bitten, Hilferufe bleiben unbeantwortet. Während die WM vor der Haustür der Spielerinnen auch in Melbourne stattfindet, haben sie nicht einmal die Chance, überhaupt nur internationale Spiele austragen zu dürfen, geschweige denn, sich für die WM qualifizieren zu können.
"Es ist traurig, dass die FIFA uns komplett ignoriert. Es ist wirklich enttäuschend", sagt Mursal. "Wir trainieren, wir meistern all die Schwierigkeiten, wir haben sogar die Gefahren Afghanistans überwunden, wir wollen einfach nur unser Land repräsentieren. Wir wollen Stellvertreterinnen sein für Millionen von Mädchen und Frauen in Afghanistan, aber wir haben nicht einmal die Möglichkeit, als Team bei den Turnieren der FIFA mitzuwirken. Wir dürfen kein Teil der FIFA-Gemeinschaft sein."
Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, hat das Team kurz vor dem Start der WM den Hope Cup ausgetragen, gemeinsam mit einem Team von anderen Geflüchteten haben sie in Melbourne ein Zeichen gesetzt. Mit dabei als Unterstützer war Wahidullah Waissi, der afghanische Botschafter in Australien, der seit dem Sturz der demokratischen Regierung seines Landes praktisch im Exil auf seinem Posten geblieben ist.
Mit ihrer Ignoranz spielt die FIFA den Taliban in die Karten: Fußballspielende Frauen aus ihrem Land? Gibt es nicht, so der Anschein. Gibt es doch! "Die Taliban wollen nicht, dass Frauen Fußball spielen, sie dürfen keine Bildung erhalten, nicht arbeiten, nicht in Freiheit leben. Aber wir sind hier, wir spielen wieder Fußball", sagt Mursal und betont auch die politische Signalwirkung: "Würde uns die FIFA die Möglichkeit geben, wieder offiziell mitspielen zu dürfen, wäre das eine schallende Ohrfeige für die Taliban. Es wäre der deutliche Fingerzeig, dass diese Frauen hier Tausende Kilometer fern von der Heimat sind, aber immer noch ihr Land repräsentieren wollen. Vielleicht nicht einmal als Nationalteam, aber doch zumindest als Geflüchteten-Team. Wir könnten den Taliban zeigen: Ihr stoppt uns nicht! Ihr zerstört nicht unsere Träume!"
Beim Deutschland-Spiel dabei
Das Team von Melbourne Victory dominiert die Gegnerinnen an diesem Sonntag, am Ende steht es 4:0. Es ist kein hochklassiges Spiel, gegen professionelle Nationalteams hätten sie keine Chance auf einen Sieg. Doch die Voraussetzungen könnten nun einmal nicht unterschiedlicher sein - und letztlich geht es nicht allein um das sportliche Duell, sondern um die Symbolik. Sie würden vieles dafür geben, überhaupt die Chance auf ein Spiel zu bekommen. Mursal, die bereits für ihr Land gespielt hat, verdeutlicht, was das Schweigen der FIFA für sie ganz persönlich bedeutet: "Ich kann aufgrund der FIFA-Regeln nie wieder für ein anderes Land spielen, der Weltverband lässt keinen Nationenwechsel zu. Selbst wenn ich Australierin werden sollte, ginge das nicht." Ihr ist derzeit eine Zukunft mit internationalen Spielen verwehrt.
Spielerinnen eines anderen muslimischen Landes haben es dagegen geschafft, sie sind in Australien und Neuseeland dabei: Marokko tritt erstmals bei einer WM an. Ihr historisches erstes Spiel bestreiten sie gegen Deutschland, den Weltranglisten-Zweiten. "Da kommt viel Stolz, Mentalität und fußballerische Qualität auf uns zu", warnte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg bei der Abschlusspressekonferenz. Mursal und ihre Teamkolleginnen werden im Stadion zuschauen und Marokko die Daumen drücken. "Sie zeigen der Welt, dass der Islam Frauen von nichts ausschließt, sie können alles tun, was sie wollen", so die junge Frau. "Es sind einzig und allein die Taliban, die die falsche Botschaft in die Welt senden." Sie erklärt: "Wir hoffen so sehr, dass die FIFA auf das marokkanische Team schaut und an uns denkt und uns eine Chance gibt."
Es scheint illusorisch, auf eine Reaktion des Fußball-Weltverbands zu hoffen - und doch ist es die einzige Möglichkeit, den Traum nicht endgültig begraben zu müssen. "Es ist absolut ausgeschlossen, dass die Taliban uns diese Chance geben", sagt Mursal. "Sie würden uns das niemals erlauben, sie gestatten den Menschen ja noch nicht einmal einen Spaziergang im Park, sie verbieten Frauen einfach alles. Frauen dürfen noch nicht einmal einfach atmen. Wie sollten wir da erwarten, dass wir jemals das Land vertreten dürfen?"
So lange bleibt Mursal und Co. nur das Zuschauen und Anfeuern - und das Spiel am Wochenende gegen andere Teams aus Melbourne. Dort können sie zeigen, was sie draufhaben, mit Erfolg: Aktuell ist Melbourne Victory FC AWT Zweiter der Tabelle, von elf Spielen haben sie neun gewonnen. Auch abseits der großen WM-Stadien geht es täglich um die kleinen Siege und die großen Träume.
Quelle: ntv.de