Blutige WM und wirrer FIFA-Boss Ein dunkler Schatten legt sich über den Fußball
20.11.2022, 17:02 Uhr
Die WM in Katar läuft.
(Foto: IMAGO/Pixsell)
Die blutigste Weltmeisterschaft der Geschichte beginnt. In Katar laufen viele Sachen schief, und die FIFA begeht den endgültigen Ausverkauf des Fußballs, aber geriert sich als Weltretter. Es bedarf bei diesem Turnier besonders kritischer Beobachtung - aber ohne Fingerzeig von oben herab.
Nun ist sie also da. Die Fußball-Weltmeisterschaft, um die es seit mehr als einer Dekade Diskussionen gibt. Die so viele nicht haben wollten. Und über der seit der Vergabe im Jahr 2010 ein dunkler Schatten liegt. Die teuerste WM, die es je gab. Die kontroverseste WM. Die am meisten kritisierte WM. Das Fußball-Turnier in Katar.
Herzlich willkommen zum 220 Milliarden US-Dollar teuren Bankrottprojekt der FIFA. Doch diese WM kostet nicht nur Banknoten; viele Menschen mussten mit ihrer Gesundheit oder gar ihrem Leben bezahlen, damit Fans aus der ganzen Welt jetzt einem Spiel mit einem Ball zujubeln dürfen. Mindestens 6500 Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter starben beim Bau der WM-Infrastruktur (unter anderem Stadien, ein Flughafen, Straßen, öffentliche Verkehrsmittel und etwa 100 Hotels). Anhand der 169 bei der WM in Russland erzielten Treffer ergäbe das für jedes geschossene Tor 39 Menschenleben. Amnesty International berichtet gar von 15.000 toten Arbeiterinnen und Arbeitern in Katar seit der Vergabe des Turniers an den Wüstenstaat. Es steht fest: Dies ist auch die blutigste WM, die es je gab.
Menschenhandel, moderne Sklaverei, das Kafala-System: Neue Reformen im Land sind Menschenrechtsorganisationen nicht ausreichend, werden oftmals nicht konsequent durchgesetzt und kommen erst, nachdem Tausende gestorben sind. Besonders Arbeitsmigrantinnen in Haushalten sind weiterhin bedroht und ungeschützt, und ihr Kampf ist kaum sichtbar. Ihnen bleibt der Schutz von neuen Institutionen weiter verwehrt, und sie können bei Misshandlungen nur unter großer Gefahr fliehen. Auch der DFB muss sich fragen: Betreibt man eine Art Image-Aufpolierung des Regimes von Katar oder geht man aktiv Aktionen an und spendet etwa WM-Prämien in einen eigens für die Leidenden und ihre Familien ins Leben gerufenen Fonds?
Berichte aus Stadien, an denen Blut klebt
Große Aufregung gibt es auch über die Rechte der LGBTQ-Community in Katar. Bundesinnenministerin Nancy Faeser erwirkt eine Sicherheitsgarantie für sie über die Dauer der WM, ein katarischer WM-Botschafter nennt Homosexualität in einer ZDF-Dokumentation einen "geistigen Schaden", Gianni Infantino berichtet ebenfalls von Sicherheitsgarantien von höchster Stelle. Doch alles kann sich in Katar ganz schnell ändern.
Auch die Autoren dieses Artikels, die seit Freitag aus Katar berichten, werden ungewollt Teil des Missbrauchsprozesses. Sie fliegen mit Qatar Airways, der staatlichen Fluglinie, für dessen Partnerschaft sie den FC Bayern kritisieren. Sie schlafen in einem Hotel, nutzen die neue Metro und berichten aus WM-Stadien, an denen Blut klebt. Anfang des Jahres erklärte Hiba Zayadin, leitende Golf-Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) gegenüber ntv.de, dass der Missbrauch bei der WM allgegenwärtig sein werde: "Jeder Fan und jeder Spieler, der zur Weltmeisterschaft fährt, wird irgendwann einmal mit einem Gastarbeiter zu tun haben, der misshandelt wurde." Und die Misshandlungen hören während der WM nicht wie von Geisterhand auf.
Dennoch ist es wichtig, vor Ort zu sein, über Missstände zu berichten, die Mächtigen des Fußballs und Katars zur Verantwortung zu ziehen, genau hinzuschauen, was vor, bei und nach dem Mega-Event abseits des Rasens passiert. Etwa wenn FIFA-Boss Gianni Infantino zu einer vogelwilden PR-Rede ansetzt, die genauso gut aus der Feder des Emirs von Katar hätte stammen können, wie am Samstag geschehen.
FIFA-Boss Infantino sieht Probleme nicht
Mit kleinen Machtdemonstrationen in den letzten Tagen zementierte das Gastgeberland seine Stellung oberhalb des Fußball-Weltverbands. Beim Thema Bier ist Katar die FIFA egal. Es ist ihnen auch egal, dass in Doha, wie Infantino informiert, zeitgleich über "100.000 Menschen Alkohol konsumieren" können und das an über "200 Orten". Das Bierverbot ist nicht einmal gegen die Fans vor Ort gerichtet. Es ist ein weiterer Mittelfinger Katars in Richtung Europa, in Richtung der Kritiker. Ihr könnt fordern, was ihr wollt, und wir können machen, was wir wollen.
Für Infantino grundsätzlich aber auch kein Problem: "Wenn dies das größte Problem des Turniers sein wird, dann unterschreibe ich sofort und hänge bis zum 18. Dezember am Strand ab", sagt er und erklärt: "Drei Stunden ohne Bier am Tag sind zu überleben!" Inhaltlich immerhin korrekt. An fehlendem Bier ist noch niemand gestorben, anders als an fehlendem Wasser bei Arbeiten in der Hitze. Infantinos Begründung für den Alkoholbann: Es geht um die Sicherheit der Zuschauer bei dieser so dichten, kompakten WM. "Wir müssen sicherstellen, dass die Leute das Stadion betreten und verlassen können. Deswegen mussten wir diese Entscheidung treffen", sagt er. Eine Entscheidung, die die FIFA natürlich mittrage: "Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun."
Die FIFA-WM 2022 ist gleichbedeutend mit dem endgültigen Ausverkauf des Fußballs. Denn es ist nicht nur Katar, sondern auch die FIFA. Sie ermöglicht es, den Katar-Kapitalismus in die Welt hinauszutragen. Das kleine Emirat am Golf nutzt die Soft Power des Fußballs, um sich gegen die großen Nachbarn zu schützen. Das kleine Emirat am Golf nutzt seinen Reichtum, um sogar der FIFA die Bedingungen zu diktieren. Der Weltverband ist in den Jahren bis zu den weißen Elefanten in Brasilien, den gigantischen, nach dem Turnier 2014 ungenutzten Stadien, über die Gastgeberländer gekommen.
Anders ist es bereits 2018 beim Turnier im Vorkriegs-Russland. Präsident Wladimir Putin hat da bereits die Krim annektiert, seine Stellungen in der Ost-Ukraine gefestigt. Die Proteste gegen das Turnier sind mild. Putin wird von Infantino hofiert. Auch die deutschen Medien sind bald mehr am Desaster der DFB-Elf interessiert als an den Umständen der Doppelvergabe an Russland und Katar in 2010 und den Repressionen des russischen Regimes.
Welche Rolle spielt der Sport bei der "WM der Schande"?
Das wird in Katar anders sein. Die sportliche Erzählung des Turniers steht bislang im Hintergrund. Dabei wird es die letzte WM für viele prägende Figuren des Weltfußballs sein. Der deutsche Kapitän Manuel Neuer, die Superstars Cristiano Ronaldo und Lionel Messi, die große Generation Uruguays um Luis Suárez - sie alle werden beim Turnier 2026 in den USA, Kanada und Mexiko mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr für ihr Land auflaufen. Neue Stars werden ihre ersten Schritte auf der Weltbühne machen. Die Bundesliga stellt mit Bayerns Jamal Musiala und Jude Bellingham von Borussia Dortmund zwei dieser Spieler.
FIFA-Präsident Infantino wünscht sich das Ende der Politik, das Ende der Aufregung. Es dürfte nicht so kommen. Es ist unklar, wieweit sich im vorweihnachtlichen Deutschland so etwas wie Freude über diese so dunkel gezeichnete WM breit machen kann. Die Forderungen nach einem TV-Boykott des Turniers wurden in den vergangenen Wochen lauter. Sportliche Aspekte spielten im Vorfeld dieser "WM der Schande" gerade in Europa keine Rolle. Je mehr sich Infantino die ihm unliebsame Politik aus dem Fußball herauswünscht, umso mehr fokussiert sich der Blick genau darauf. Der FIFA-Boss reagierte noch am Samstag mit wütenden Angriffen auf Europa.
Jedoch ist es ebenfalls wichtig, nicht belehrend mit dem Finger zu zeigen. Die erdrückenden Vorwürfe der gekauften WM gibt es genauso bezüglich des Sommermärchens 2006 in Deutschland. Und für den fußballbegeisterten Nahen Osten und sämtliche islamische Länder ist das Turnier ein Meilenstein in Richtung globale Gleichberechtigung.
Willkommen zur blutigsten WM der Geschichte
Es gibt durchaus gute Gründe, warum dieses Turnier nicht schon wieder in der westlichen Welt stattfindet. Auch für die Südamerikaner ist es die erste Sommer-WM. Es gibt genug Gründe für Kritik. Das ist keiner. Auch wenn durch den engen Spielplan der nationalen Ligen nun Stars wie Sadio Mané und Karim Benzema aufgrund von Verletzungen auf die WM verzichten müssen.
So beginnt dieses kontroverse Turnier im Emirat am Golf vor 60.000 Zuschauern im Al-Bayt-Stadion, dem einem Beduinenzelt nachempfunden Bau, außerhalb Dohas. Unter den Augen von Infantino, unter den Augen von Tamim bin Hamad Al Thani, dem Emir von Katar, und zahlreichen Staatenlenkern, aber in Abwesenheit von Bundeskanzler Olaf Scholz und jedweder Euphorie in Deutschland.
Was die Familien der vielen Gastarbeiterinnen und -arbeiter beim Anstoß denken, ist nicht übermittelt. Einige werden aber wohl an ihre Familienmitglieder denken, die beim Bau des Al-Bayt-Stadions zu Schaden oder sogar ums Leben gekommen sind. Die Menschenrechtsorganisation Equidem listet in einem Bericht viele der Vorfälle bei der Errichtung des Vorzeigebaus auf. Die blutigste WM der Fußball-Geschichte läuft.
Quelle: ntv.de