Strommarktexperte im Interview "Langfristige Gaslieferverträge werden zur Kostenfalle"
23.02.2023, 19:02 Uhr Artikel anhören
"Der Schwerpunkt dieser kurzfristigen Krisenstrategie lag darauf, fossile Lösungen für ein fossiles Problem zu finden", sagt Energieexperte Philipp Godron.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Abkehr vom russischen Gas hat zu einer Zäsur in der deutschen Energiepolitik geführt - aber nicht unbedingt zu einer unmittelbaren Beschleunigung der Energiewende, sagt Philipp Godron von Agora Energiewende. Im Interview mit ntv.de zieht der Strommarktexperte eine Bilanz für das Krisenjahr 2022.
ntv.de: Zu Beginn des russischen Angriffskrieges stufte Finanzminister Christian Lindner die erneuerbaren Energien als "Freiheitsenergien" ein. Der Ausbau sollte beschleunigt werden, um vom russischen Gas unabhängig zu werden. Wurde diese Aussage von der Ampelregierung umgesetzt?
Philipp Godron: Die Energiewende ist 2022 ins Hintertreffen geraten. Es war kein ganz verlorenes Jahr, aber auch kein gutes Jahr für die Energiewende.
Wieso?
Die Regierung stand vor der Aufgabe, sehr schnell die weggefallenen Erdgasmengen aus Russland ersetzen zu müssen. Der Schwerpunkt dieser kurzfristigen Krisenstrategie lag darauf, fossile Lösungen für ein fossiles Problem zu finden. So konnten etwa extrem schnell neue Flüssiggas-Terminals an der Küste gebaut werden. Mit dieser neuen fossilen Infrastruktur besteht die Gefahr, dass langfristige Lieferverträge für Flüssiggas abgeschlossen werden, die nicht mit unseren Klimaschutzzielen vereinbar sind - und damit zur Kostenfalle werden.
Hatte dieser Krieg und die darauffolgende Abkehr von russischem Gas also keinen Einfluss auf die Energiewende?
Mit dem Krieg wurde deutlich, wie gefährlich eine Abhängigkeit von fossilen Energieimporten ist. Damit ist die Zustimmung in der Bevölkerung für den Ausbau der erneuerbaren Energien deutlich gewachsen. Solar- und Windenergie sind nicht mehr nur die günstigsten Stromerzeuger, sondern tragen außerdem zur Versorgungssicherheit bei: Mit erneuerbaren Energien können wir unsere Abhängigkeit von teuren fossilen Brennstoffen strukturell reduzieren. Diese Erkenntnis trägt wesentlich dazu bei, den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben.
2022 wurden 46 Prozent des Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien gedeckt. Das ist ein Rekordjahr. Haben der russische Angriffskrieg und die Abkehr vom russischen Gas dabei eine Rolle gespielt?
Nein. Die Abkehr vom russischen Gas hatte zwar Auswirkungen auf den Strommix, hat aber nicht zu der Rekorderzeugung aus Erneuerbaren beigetragen. Der wesentliche Grund dafür war ein sehr sonniges und windreiches Jahr. Die gleichen Anlagen haben einfach mehr Strom produziert.
Der Anteil des Erdgases am Strommix ist im vergangenen Jahr um 16 Prozent gesunken. Wenn nicht durch erneuerbare Energien, wodurch wurde dieser Anteil dann ersetzt?
Erdgas wurde vor allem durch andere fossile Energieträger ersetzt. Zum Beispiel wurden Kohlekraftwerke aus der Reserve geholt. In der Folge stieg die Kohleverstromung um 11 Prozent an. Zudem haben die Einsparungen bei Privathaushalten und der Industrie viel dazu beigetragen, dass insgesamt weniger Strom gebraucht wurde. Allerdings fällt der größte Erdgasverbrauch in der Wärmeversorgung und der Industrie an und nicht bei der Stromerzeugung. Bei den Ersatzbeschaffungen für russisches Erdgas durch Erdgas aus Norwegen oder Flüssigerdgas zum Beispiel aus den USA ging es also viel mehr darum, die Wärmeversorgung und Industrieproduktion zu sichern.
Krieg war gerade ausgebrochen und die Sorge um eine Mangellage im Winter war groß. Musste man nicht auf Gas setzten, um die Versorgungssicherheit im Winter zu gewährleisten?
Wir müssen in der Bewertung fair bleiben - es war naheliegend, mit kurzfristigen Maßnahmen das fehlende Gas aus Russland durch anderes Erdgas zu ersetzen. Allerdings löst das unsere fossile Energiekrise nicht. Wir konnten aber sehen, was möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist und die administrativen Ressourcen entsprechend eingesetzt werden: Flüssigerdgas-Terminals wurden in wenigen Monaten genehmigt und gebaut, was normalerweise zwischen drei und fünf Jahren dauert. Mit der gleichen Entschlossenheit muss die Regierung nun den Ausbau der erneuerbaren Energien voranbringen.
Gab es im vergangenen Jahr überhaupt keinen Zubau an erneuerbaren Energien?
Im vergangenen Jahr wurden sieben Gigawatt Photovoltaik und 2,3 Gigawatt neue Windkraftanlagen in Betrieb genommen. Das ist weit unter dem, was wir brauchen, um die jährlichen Ausbauziele zu erreichen.
Wie viele Gigawatt müssen gebaut werden, um die Klimaziele zu erreichen?
Die Bundesregierung hat sich im vergangenen Jahr das Ziel gesetzt, den Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix bis 2030 auf 80 Prozent zu erhöhen, und dies auch gesetzlich verankert. Um das zu erreichen, müssen wir innerhalb der nächsten zwei Jahre Zubau-Raten von 10 Gigawatt Windkraft an Land, 3 Gigawatt Windkraft auf See und 20 Gigawatt Solarenergie pro Jahr erreichen. Die Regierung muss 2023 dringend die Bremsen bei der Energiewende lösen. Um die strukturelle Abhängigkeit von fossilen Energieimporten zu beenden, müssen wir raus aus den fossilen Energien und konsequent rein in die erneuerbaren Energien.
Welche konkreten Schritte hat die Regierung unternommen, um dieses Ziel zu erreichen?
Erstens wurden die erneuerbaren Energien als wichtig für die Energiesicherheit eingestuft, was sich auch rechtlich auswirkt. Der Prozess bis zum Bau von Solaranlagen und Windrädern ist in den letzten Jahren immer kleinteiliger und langwieriger geworden. Der neue Status ist eine Stellschraube, um die Genehmigung für solche Projekte zu beschleunigen. Dazu hat die Bundesregierung das Ziel gesetzt, bis 2032 durchschnittlich zwei Prozent der Landesfläche für den Ausbau der erneuerbaren Energien auszuweisen. Das ist für Projektentwickler wichtig, damit sie ausreichend Flächen vorfinden, die bebaut werden können.
Haben die hohen Preise für fossile Energie bei der Umstellung auf erneuerbare Energien eine Rolle gespielt?
Es hat einen regelrechten Run auf die Technologien der Energiewende gegeben. Ein erheblicher Teil des Wachstums bei der Solarenergie kam nicht von der Regierung durch die großen Ausschreibungen, sondern durch eine große Nachfrage nach Photovoltaikanlagen auf privaten Dächern. Darüber hinaus wurden 230.000 neue Wärmepumpen installiert. Um die steigende Nachfrage nach diesen Technologien bedienen zu können, müssen jetzt vom Hersteller bis zur Installation die Kapazitäten gestärkt werden.
Die hohen Preise für Gas und Öl sind inzwischen wieder gesunken, wird dieser Effekt also wieder abklingen?
Nein, weil niemand erwartet, dass die Strompreise so schnell wieder auf Vorkriegsniveau sinken. Denn das weggefallene Erdgas aus Russland ersetzen wir mit teurerem Flüssigerdgas. Das macht uns auch abhängig von der globalen Marktsituation. Wenn jetzt zum Beispiel die Wirtschaft in China infolge der Aufhebung der Corona-Beschränkungen wieder anzieht, können die Preise für Flüssigerdgas sehr schnell in die Höhe schießen. Nur wenn wir den Erdgasverbrauch strukturell reduzieren, sinken die Preise dauerhaft. Das erreichen wir durch mehr Energieeffizienz und den Erneuerbaren-Ausbau. Das hilft dem Klima und senkt die Preise.
Mit Philipp Godron sprach Clara Suchy
Quelle: ntv.de