Ökonom Dullien im Interview Unternehmen nicht "bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag subventionieren"
20.08.2023, 16:44 Uhr Artikel anhören
Der IT-Boom in Ostdeutschland setzt sich fort: Der taiwanische Chiphersteller TSMC will zehn Milliarden Euro in den Standort Dresden investieren - die Fabrik soll auf dieser Wiese entstehen.
(Foto: Sebastian Kahnert/dpa)
Inflation, höhere Zinsen, Kaufkraftverlust: Deutschland verarbeitet nach Einschätzung von Ökonom Sebastian Dullien einen Energiepreisschock. Er fordert deswegen Klarheit bei den Energie- und Strompreisen. Milliardenschwere staatliche Förderungen sieht er trotzdem kritisch.
Herr Dullien, einige Medien schreiben beim Blick auf die deutsche Wirtschaft schon wieder vom "kranken Mann Europas". Teilen Sie diese Diagnose?
Sebastian Dullien: Ich habe ein Problem mit diesem Begriff, denn er redet die Komplexität klein. Er suggeriert, dass wir nur die 20 Jahre alten Lösungen von damals brauchen, und schon läuft wieder alles. Das ist mir zu einfach. Wir sind 20 Jahre weiter und haben andere Probleme. Die müssen wir neu diagnostizieren und passgenaue Lösungen finden.
Wie lautet Ihre Diagnose?

Sebastian Dullien ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung und Professor für Allgemeine Volkswirtschaftslehre, insb. internationale Wirtschaft an der HTW Berlin.
(Foto: picture alliance / photothek)
Auf den ersten Blick scheint es gar nicht so schlecht zu laufen. Wir haben eine niedrige Arbeitslosigkeit und die Inflation geht langsam zurück - das ist fundamental anders als zur Jahrtausendwende. Jetzt ist es aber so, dass weder die Wirtschaftsleistung noch die Dynamik nach vorne befriedigend sind. Inklusive der Corona-Zeit deutet sich an, dass wir mindestens ein halbes verlorenes Jahrzehnt in Deutschland haben. Um auf die Frage der Diagnose zurückzukommen: Deutschland verarbeitet gerade den Energiepreisschock mit all seinen Konsequenzen - Inflation, höhere Zinsen, Kaufkraftverlust, und vieles mehr.
Wie lässt sich das therapieren?
Der Energiepreisschock wirkt vor allem über drei Kanäle: Die Kaufkraft der Menschen ist durch die Inflation gesunken. Dadurch konsumieren sie weniger. Das passt sich aber über die Zeit mit steigenden Löhnen an. Zweitens wirkt der Schock über die Zinsen. Das trifft vor allem die Bauindustrie. An den Zinsen kann die Politik aber nichts ändern. Und drittens, vielleicht am drängendsten, haben energieintensive Unternehmen jetzt höhere Kosten. Das noch größere Problem hierbei ist aber die Unsicherheit der Unternehmen über zukünftige Energiepreise. Das hat es jahrzehntelang nicht gegeben und führt dazu, dass Unternehmen ihre Investitionen nicht sauber kalkulieren können - weshalb sie aktuell die Füße stillhalten. Dieses Umfeld muss von der Politik dringend stabilisiert werden.
Die Zinsen steigen nur noch langsam, der Ukrainekrieg bewegt die Märkte kaum noch und vom russischen Gas haben wir uns längst entwöhnt. Erleben wir nicht schon eine Stabilisierung des Umfelds, so dass Unternehmen sauber kalkulieren könnten?
Wir sollten uns hier an die Daten halten. Da sehen wir zum Beispiel, dass sich die Auftragseingänge für Vorprodukte aus dem Inland - ein guter Frühindikator - noch nicht verbessert haben. Das ist ein klares Zeichen der Unsicherheit.
Was wird benötigt, um mehr Sicherheit zu schaffen?
Wir brauchen Klarheit bei den Energie- und hier vor allem bei den Strompreisen. Wenn ich Unternehmer frage, mit welchen Strompreisen sie in Zukunft rechnen, bekomme ich extrem unterschiedliche Antworten. Und da viele Investitionen über einen Zeitraum von zehn bis 15 Jahren geplant werden, ist das in der Tat ein Problem. Da geht es nicht einmal um die Höhe der Energiepreise - die waren in Deutschland schon immer vergleichsweise hoch und wurden durch andere Faktoren ausgeglichen. Es geht neben den volatilen Preisen auch um einen schlingernden Kurs bei der Energietransformation - wie schnell sie kommt, und wie schnell die Erneuerbaren Energien auch preissetzend sein werden. Wenn sich hier der politische Nebel lichten würde, dann würden wir auch wieder mehr Investitionen sehen.
Wäre ein gedeckelter Industriestrompreis, so wie er gerade diskutiert wird, ein solches Signal?
Ich halte die Idee grundsätzlich für sinnvoll, dass wir schwankende Strompreise so lange glätten, bis der Ausbau der Erneuerbaren für dauerhaft niedrige Preise sorgt. Der Vorschlag alleine wird aber nicht ausreichen, man muss ihn als ein Element von vielen verstehen. Noch wichtiger als dieser Brückenstrompreis ist ein klarer Plan für den Ausbau der Erneuerbaren. Wenn sich daraus ein Zeitpunkt abzeichnet, zu dem wir wettbewerbsfähige Energiepreise anbieten können, sollten wir eine Brücke bis dahin bauen. Ob das nur für die Industrie oder auch für Haushalte gelten soll, kann man noch diskutieren.
Unterstützen wir mit dem Industriestrompreis denn die Richtigen? Einige Auswertungen zeigen zum Beispiel, dass energieintensive Unternehmen wie lokale Großbäckereien besonders profitieren würden, obwohl sie nicht im internationalen Standortwettbewerb stehen. Dabei soll der Industriestrompreis doch Deutschland in genau diesem Wettbewerb besser positionieren…
Warten wir erst einmal ab, was konkret kommt. Bislang sind nur Ideen im Raum. Aus meiner Sicht sollten die Hilfen aber in der Tat an zwei Voraussetzungen gekoppelt sein: Das entsprechende Unternehmen muss, erstens, energieintensiv sein und, zweitens, im internationalen Wettbewerb stehen. Und trotzdem kann es auch für die angesprochene Bäckerei sinnvoll sein, wenn man ihr damit zum Beispiel den Umstieg von Gas auf Strom ebnet.
Welche Branchen stehen bei den Energiekosten denn tatsächlich unter Druck und äußern nicht bloß Wünsche?
Die Chemiebranche, die Batterieproduktion oder Stahlbranche stehen bereits jetzt unter Druck oder es zeichnet sich für anstehende Produktionsentscheidungen ab.
Sollten wir diese Unternehmen subventionieren? Vielleicht sogar mit milliardenschweren staatlichen Förderungen wie im Fall von Intel?
Es sind zu viele Unternehmen als dass wir gleich allen Subventionen genehmigen können. Wir sollten energieintensiven Branchen Planungssicherheit für einen gewissen Zeitraum schaffen, aber nicht deren komplette Produktionen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag subventionieren.
Unter Ökonomen ist eine Debatte entbrannt, ob die Förderungen für Chip-Unternehmen wie Intel oder TSMC möglicherweise zu üppig sind. Wie positionieren Sie sich?
Man muss sich klar machen, warum man subventioniert. Heute geht es bei Subventionen nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um die strategische Autonomie der Europäischen Union - bei Gesundheitsprodukten, bei Medikamenten, bei Halbleitern. Zum anderen gibt es bestimmte Leitmärkte, wo Zukunftstechnologien drauf aufbauen. Wenn wir hier in Europa abgekoppelt werden, verlieren wir irgendwann Wohlstand. Dazu gehören Chips, aber auch Produkte wie Stahl oder chemische Grundstoffe. Das Problem ist: Diese beiden Punkte, strategische Autonomie und Leitmärkte, lassen sich nur schwer in einer Kosten-Nutzen-Kalkulation durchrechnen. Die Wahrheit ist, dass sich die Frage, zu hohe Subventionen oder nicht, kaum beantworten lässt.
Führt die Entwicklung aber nicht geradewegs in einen Subventionswettlauf?
Ja, wir befinden uns in einem Subventionswettbewerb zwischen einzelnen Regionen, und der ist auch stärker als früher. Angefangen hat das aber schon unter US-Präsident Obama. Seit Obama wird Handelspolitik nicht mehr nur als Mittel zum Zwecke gesehen, um die Wirtschaftsleistung zu verbessern. Seitdem hat Handelspolitik immer auch eine politische Komponente - indem man sich von der Konkurrenz, und vor allem die USA von China abgrenzen will.
Wo steht Europa im Triell mit den USA und China?
Wir sind in vielen Bereichen immer noch sehr gut aufgestellt - gerade bei den Erneuerbaren Energien wie Windkraft. Da ist auch Deutschland weit vorne dabei. Wir sind nicht abgehängt, haben in einigen Bereichen aber unsere Probleme - zum Beispiel bei der E-Mobilität und der chinesischen Konkurrenz. Da müssen wir natürlich aufpassen.
Auch in den USA und China gibt es massive Subventionen. Jetzt sagen aber einige Ordnungsökonomen wie Lars Feld, dass wir auch die Kosten der Regulierung senken könnten - also vereinfach gesagt, die Bürokratie reduzieren sollten. Das würde ähnlich wie eine Subvention wirken, nur effizienter. Was halten Sie von dieser Verrechnung?
Vorab: Wir haben viele der Regeln aus guten Gründen. Sei es beim Arbeitsschutz oder auch beim Umweltschutz. Das sollte uns etwas wert sein. Anders ist es, wenn die Kosten der Regulierung den Nutzen übersteigen. Dann macht Regulierung nie Sinn. So etwas muss man aber im Einzelfall prüfen. Grundsätzlich meine ich: Der Wohlstand ist viel mehr als das Bruttoinlandsprodukt. Aus meiner Sicht ist allgemeine Deregulierung daher keine sinnvolle Strategie. Es gibt aber sicher Punkte, an denen man Bürokratie reduzieren könnte.
Woran denken Sie?
Ich glaube, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren für neue Anlagen und Infrastruktur zu lange dauern. Teilweise sind die Anforderungen auch zu hoch. Die Abwägung zwischen den Kosten und dem Nutzen für die Gesellschaft ist aus dem Gleichgewicht geraten.
Sie spielen auf das Thema Artenschutz an?
Ich bin kein Ökologe. Aber, ja, unter anderem das Thema Artenschutz. Was ich höre, ist, dass wir schneller über Ersatzflächen reden könnten. Und das ist aus meiner ökonomischen Sicht plausibel.
Subventionen und Bürokratieabbau sind zwei Ideen, um die deutsche Wirtschaft zu beleben. Einige fordern aber auch schon ein klassisches Konjunkturpaket. Gehören Sie dazu?
Da muss man erst einmal schauen, was darunter verstanden wird. Wenn das heißt, wir sollten pauschal die Steuern senken und Mehrausgaben tätigen, dann nein - da würde ich mich nicht anschließen. Das gleiche gilt für Direktzahlungen an die Haushalte, wie etwa in den USA in vergangenen Krisen. Auch das halte ich in der aktuellen Situation nicht für sinnvoll. Die realen Einkommen werden dank guter Lohnabschlüsse über die Zeit wieder steigen und den Konsum ankurbeln. Die angesprochenen Probleme mit der Unsicherheit löse ich nicht durch ein Konjunkturpaket. Ich halte daher auch nichts von der Idee der Union, die die Steuern auf einbehaltene Unternehmensgewinne senken will. Das würde nicht zu den gewünschten Investitionen führen, weil die Unsicherheit damit nicht beseitigt wird.
Bundesfinanzminister Lindner hat in dieser Woche mehrere Vorschläge gemacht und diese unter dem Begriff "Wachstumschancengesetz" zusammengefasst. Auch wenn sich die Grünen quer gestellt haben, und das Gesetz nicht durch das Kabinett gegangen ist. Wenn Sie auf die Ideen schauen: Lösen die Vorschläge das Versprechen im Namen ein?
In dem Paket sind einige gute Vorschläge, über die man nicht groß streiten muss. Investitionsförderungen, eine Reform bei der Steuervoranmeldung, Sofortabschreibungen für geringwertige Güter - das ist alles okay. Es gibt nur ein Problem: Das Paket ist gerade einmal 6 Mrd. Euro groß, und das zeigt schon, wie gering der Impuls sein würde.
Was fehlt aus Ihrer Sicht in einem solchen Paket?
Neben der zu beseitigenden Unsicherheit, könnte man kurzfristig die Abschreibungsmöglichkeiten noch einmal deutlich verbessern, über das hinaus, was Lindner plant. Damit könnten Unternehmen einen noch größeren Anteil ihrer Investitionen sofort steuerlich geltend machen. Das hat in der Vergangenheit in anderen Ländern gut funktioniert und ist auch für den Staat verhältnismäßig günstig.
Was ist mit Geld aus dem Ausland? Sollten wir das Geld wie im Fall von Viessmann annehmen, um Investitionen zu fördern - oder folgt daraus ein Ausverkauf der deutschen Wirtschaft?
Internationale Übernahmen sind nichts Neues. Das ist völlig normal - übrigens auch umgekehrt, wenn deutsche Unternehmen in den USA investieren. Das hat dann nichts mit Ausverkauf zu tun. Man muss als Bundesregierung nur aufpassen, wenn immer häufiger geopolitische Interessen dahinterstehen. Das ist vor allem bei chinesischen Unternehmen der Fall. Nicht immer, aber teilweise eben schon.
Ist China unser größtes Wachstumsrisiko?
Man könnte eher sagen: Je größer die Verflechtung, umso größer das Risiko. China ist entsprechend ein großes Risiko, allerdings geht auch ein relevantes Risiko von den USA aus, wo mit Donald Trump ein unkalkulierbares Risiko wieder zur Wahl stehen wird.
Aber trotzdem hat man das Gefühl, dass Investitionen aus den USA ungeprüft durchgewunken werden - ganz anders als bei chinesischen Investoren…
Ja, weil es einen fundamentalen Unterschied gibt: Die USA verfolgen keine strategische Politik der technologischen Abschöpfung. Es ist etwas anderes, wenn ein US-Unternehmen in Viessmann investiert, um neue Märkte zu erschließen, als ein chinesisches Staatsunternehmen, das wenig technologisches Wissen in diesem Bereich besitzt, und wahrscheinlich nur an die Patente will.
Herr Dullien, letzte Frage: Werden wir die Debatte um die deutsche Schwäche auch noch in einem Jahr führen?
Ja, ich fürchte schon. Es kommt aber auch darauf an, was über den Winter passiert - wie handlungsfähig sich die Bundesregierung zeigt. Wenn aus der Debatte um den Brückenstrompreis beispielsweise wenig folgt, stehen wir in einem Jahr nicht viel besser da.
Mit Sebastian Dullien sprach Jannik Tillar
Das Interview ist zuerst auf Capital.de erschienen.
Quelle: ntv.de