Nach der Europawahl beginnt ein historisches Rennen um EU-Spitzenposten: Kommission, Rat und Europäische Zentralbank brauchen neue Chefs. So großes Geschacher gibt es rechnerisch nur alle 40 Jahre. Wer EZB-Chef Draghi ablöst, hängt von komplizierter Machtarithmetik ab.
Europa hat gewählt, aber nun beginnt in Brüssel erst das eigentliche Gerangel: Trotz herber Verluste bleiben die Konservativen stärkste Kraft, gefolgt von den Sozialdemokraten. Wahlgewinner sind die Liberalen, Grünen und Rechtspopulisten, die allesamt kräftig zugelegt haben. Das Wahlergebnis vermittelt jedoch nur ein unvollkommenes Bild der künftigen Machtverteilung auf dem Kontinent.
Fünf Spitzenjobs hat die EU bis Herbst zu vergeben: Neben einem Nachfolger für Kommissionschef Jean-Claude Juncker müssen nicht nur ein neuer Ratspräsident, ein neuer Parlamentschef und ein neuer Außenbeauftragter gefunden werden. Auch die Amtszeit von EZB-Chef Mario Draghi endet im Oktober. Es ist ein zeitlicher Zufall, der rechnerisch nur alle 40 Jahre vorkommt. So verzwickt war die Personalsuche noch nie: "Hier muss ein Puzzle mit sehr vielen Teilen zusammengesetzt werden - und das braucht seine Zeit", sagt die liberale Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die selbst Anspruch auf die Kommissionsspitze erhebt.
Der Zeitdruck ist enorm. Die Staats- und Regierungschefs beraten schon heute Abend über die Postenvergabe. Sowohl der konservative Spitzenkandidat Manfred Weber als auch Sozialdemokrat Frans Timmermans müssen mit einem Koalitionspartner wie den Grünen oder den Liberalen ein Bündnis schmieden, um an die Spitze der EU-Kommission zu rücken. Anders als 2014 kommen EVP und Sozialdemokraten nicht mehr auf eine Mehrheit im Europaparlament, um einen Kandidaten durchzudrücken.
Brüsseler Proporz siebt die Besten aus

Die Suche nach einem Nachfolger für EZB-Chef Mario Draghi wird kompliziert.
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Zusätzlich erschwert wird die Personalsuche durch die Feinheiten der europäischen Machtarithmetik: Kein Land, keine Partei, keine Region soll sich übervorteilt fühlen. Bei der Besetzung der Topjobs muss ein feiner Proporz erfüllt werden. Die Vergabe muss austariert werden zwischen den Geschlechtern, zwischen Nord und Süd, Ost und West, reichen und armen Ländern, großen und kleinen Staaten und Parteizugehörigkeiten. Deswegen werden die Jobs auch nicht einzeln besetzt, sondern als Gesamtpaket: Die Personalien hängen voneinander ab.
Kaum einer anderen Entscheidung kommt dabei so große Bedeutung zu wie der Frage, wer neuer EZB-Chef wird. Für Deutschland sei die Personalfrage "von größerer ökonomischer Bedeutung als der Chefsessel der EU-Kommission", sagt der Ökonom Friedrich Heinemann vom ZEW-Institut in Mannheim. Mario Draghis Nachfolger wird für acht Jahre die Geschicke der Währungsunion bestimmen. Und in dieser Zeit jeder Menge Herausforderungen begegnen.
Die Krise der Währungsunion könnte im kommenden Jahrzehnt mit großer Wucht zurückkehren: Italien schlittert immer tiefer in die Schuldenkrise. Die Chancen sind groß, dass der nächste EZB-Chef entscheiden muss, ob die Zentralbank im großen Stil Roms Anleihen kauft, um die drittgrößte Wirtschaft der Eurozone zu retten. Er muss einen Plan entwickeln, wie die Notenbank aus der Niedrigzinspolitik der Finanzkrisen-Ära herausfinden soll. Und er muss sich in der Strategiedebatte positionieren, ob die Währungshüter neue Instrumente oder sogar ein neues Mandat brauchen.
"In einer vollkommenen Welt würden die EU-Regierungschefs die stärkste und am besten qualifizierte Persönlichkeit für diesen Job auswählen - unabhängig von der Nationalität", schrieb die britische "Financial Times" bereits vor Wochen. Doch die EU ist nicht vollkommen. Sie ist der wahrscheinlich umfassendste Dauerkompromiss der Weltgeschichte. Entsprechend verworren dürfte die Suche nach dem wichtigsten Wirtschaftslenker des Kontinents deshalb verlaufen. Das sind die Kandidaten:
Jens Weidmann: Der Anti-Draghi
Der frühere Wirtschaftsberater von Angela Merkel und heutige Bundesbankchef ist einer der größten Kritiker der ultralockeren Geldpolitik, mit der die EZB seit Ausbruch der Finanzkrise gegen den Kollaps von Banken und Schuldenstaaten kämpft. Mario Draghis Anleihekäufe sind Jens Weidmann ein Graus. Viele in Deutschland halten ihnen deshalb für Draghis idealen Nachfolger. Ob er auf den EZB-Chefsessel rutschen kann, dürfte vor allem davon abhängen, wer neuer EU-Kommissionschef wird. Sollte sich EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber durchsetzen, wären Weidmanns Chancen wohl ziemlich gering. Zwei Deutsche gleichzeitig auf Spitzenposten der EU sind nur sehr schwer vorstellbar.
Geht Weber aber leer aus, hätte Berlin womöglich gute Chancen, Weidmann durchzudrücken. Bei der Personalvergabe will Deutschland diesmal unbedingt einen Platz in der ersten Reihe. Auch Weidmann selbst macht das klar: "Es wäre sicherlich schlecht, wenn der Eindruck entstünde, dass es bestimmte Nationalitäten gibt, die von der EZB-Präsidentschaft grundsätzlich ausgeschlossen sind."
François Villeroy de Galhau: Der Pragmatiker
Weidmanns Amtskollege bei der französischen Notenbank hat ebenfalls Ambitionen auf den EZB-Spitzenposten. Villeroy de Galhau machte zunächst im Pariser Finanzministerium und als Stabschef für verschiedene Minister Karriere, bevor er Manager bei der Großbank BNP Paribas wurde. Er tritt für eine flexible und pragmatische Geldpolitik ein und würde damit Draghis Tradition wohl eher fortsetzen statt mit ihr zu brechen wie Weidmann.
Gegen ihn spricht, dass die Franzosen mit EZB-Chef Jean-Claude Trichet von 2003 bis 2011 bereits einmal den obersten Währungshüter gestellt haben. Entgegenkommen dürfte ihm, dass er perfekt Deutsch spricht: Seine familiären Wurzeln liegen im Saarland und im Elsass.
Olli Rehn: Der Reformer
Viel Notenbank-Erfahrung hat er zwar noch nicht: Das Zepter bei der finnischen Zentralbank hält er erst seit 2018. Trotzdem ist Olli Rehn ein Veteran der Finanz- und Euro-Krise: Als EU-Kommissar zeichnete er bis 2010 erst für die Erweiterung der Staatengemeinschaft verantwortlich. Dann managte er bis 2014 als Währungskommissar die Geschicke des Euro in seinen dunkelsten Stunden: Er wirkte sowohl an den Hilfspaketen für angeschlagene Eurostaaten als auch an der Gründung der Euro-Rettungsfonds entscheidend mit.
Im März brachte er sich als möglicher Draghi-Nachfolger ins Gespräch, indem er eine grundlegende Neuausrichtung der geldpolitischen Strategie der EZB forderte. Damit sie "glaubwürdig und effzient" bleibe, müsse sie ihre "Prinzipien, Annahmen und Instrumente" auf den Prüfstand stellen.
Benoit Coeuré: Der Kommunikator
Auch ein zweiter Franzose hat den EZB-Chefsessel im Blick: Als Mitglied im mächtigen Direktorium hat Benoit Coeuré seit 2011 den Kurs der Notenbank in der Eurokrise entscheidend mitgeprägt. Zudem kennt er die Bürokratie der riesigen Behörde in- und auswendig.
Und er gilt als erfahrener Kommunikator, der die Entscheidungen der EZB als Sprachrohr an den Märkten erfolgreich verkauft. Coeuré dürfte anders als Rehn kein Mann für Experimente sein. Er hält die Mittel der Geldpolitik auch in der Krisen-Ära weiterhin für wirksam: "Sie brauchen länger, um in der Wirtschaft anzukommen, aber sie sind nicht weniger kräftig geworden."
Erkki Liikanen: Der Kompromisskandidat
Sollte das Geschacher zwischen den Regierungen in einem Patt enden, könnte Rehns Vorgänger bei der finnischen Zentralbank der lachende Dritte sein. Erkki Liikanen gilt als aussichtsreicher Kompromisskandidat. In den 90er Jahren war er nicht nur EU-Haushaltskommissar. Bis 2018 saß er als finnischer Notenbankchef 14 Jahre lang im EZB-Rat.
Quelle: ntv.de