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Schmerz im Namen der Kunst Marina Abramovic geht durch Mauern

Auge in Auge mit der Grande Dame der Performancekunst: Mit ihrer Langzeitaktion "The artist is present" zog Abramovic 2010 ein Massenpublikum in ihren Bann.

Auge in Auge mit der Grande Dame der Performancekunst: Mit ihrer Langzeitaktion "The artist is present" zog Abramovic 2010 ein Massenpublikum in ihren Bann.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Sie peitscht sich blutig, harrt tagelang bewegungslos aus und lässt sich eine geladene Pistole an den Kopf setzen: Marina Abramovic sucht die Grenzerfahrung. Nun gewährt die Performancekünstlerin einen Einblick in ihr radikales Leben.

Stumm und bewegungslos sitzt Marina Abramovic auf einem Stuhl, acht Stunden am Tag ohne Pause, fast drei Monate lang - eine körperliche Höllentour. Ihr gegenüber steht ein zweiter Stuhl. Mehr als 1500 Besucher ihrer Retrospektive im New Yorker MoMA haben dort am Ende Platz genommen und Abramovic in die Augen geschaut - einige nur für Minuten, andere über Stunden, viele weinten.

Abramovic scheut kein Risiko.

Abramovic scheut kein Risiko.

(Foto: picture-alliance / dpa)

750.000 Zuschauer wollten "The artist ist present" 2010 sehen, nie lockte eine Live-Aktion mehr Menschen in ein Museum. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Abramovic der Status einer Ikone der Performancekunst nicht mehr zu nehmen. Was treibt sie dazu, sich vor Publikum zu quälen? Darüber möchte Abramovic in ihrer Autobiografie "Durch Mauern gehen" Auskunft geben, die pünktlich zu ihrem 70. Geburtstag am 30. November erschienen ist.

Die physischen und psychischen Grenzen des eigenen Körpers ausloten, Angst und Schmerz überwinden und testen, was das Publikum aushält - das sind die Grundsäulen ihrer Aktionen. Bei ihrer ersten Performance in den 1970er-Jahren stach sie sich mit Messern zwischen die gespreizten Finger, schnitt sich dabei immer wieder ins eigene Fleisch. Die Narben davon trägt sie noch heute.

"Ich hatte die totale Freiheit erfahren"

Die Aktion wird zur Initialzündung: "Ich hatte die totale Freiheit erfahren - ich hatte gespürt, dass mein Körper grenzenlos war; dass Schmerz keine Rolle spielte - und es war berauschend. Ich wusste, dass ich dieses Gefühl immer und immer wieder suchen würde". Und das tat sie: Sie peitschte sich blutig, schrie, bis ihr die Stimme versagte, schnitt sich ein Pentagramm in die Bauchhaut und legte sich auf ein Kreuz aus Eisklötzen.

Nicht nur einmal setzte sie sich dabei unkalkulierbaren Gefahren aus. So wurde sie in einem brennenden Stern ohnmächtig. Bei ihrer wohl extremsten Performance hätte es noch schlimmer ausgehen können: Das Publikum hatte 72 Gegenstände zur Auswahl - neben einer Rose und einem Glas Honig auch Nadeln, eine Axt und eine geladene Pistole – und durfte sie an Abramovic' Körper einsetzen. Am Ende war Abramovic halbnackt, blutüberströmt, ein Mann wollte sie erschießen.

Aber egal, wie groß das Risiko ist: Das Wort "Abbrechen" ist im Vokabular der serbischen Partisanentochter nicht existent. Ihre Eltern, die in Titos Jugoslawien als Nationalhelden verehrt wurden, setzten auf Disziplin statt auf Zuneigung. Von ihrer Mutter wurde Abramovic geschlagen oder in einen dunklen Wandschrank gesperrt. Ihr Vater brachte ihr Schwimmen bei, indem er sie mitten auf einem See aus dem Boot ins Wasser warf und weiterruderte. Als glücklichste Zeit ihrer Kindheit bezeichnet sie das Jahr, das sie wegen einer mysteriösen Krankheit in der Klinik verbringen musste.

"Goldener Löwe" für stinkende Rinderknochen

So extrem ihre Kindheit war, so extrem sind ihre Performances. Ihr Credo: "Kunst muss verstörend sein". Wenn sie nur politisch sei, "ist sie wie eine Zeitung am nächsten Tag schon veraltet". Einmal verband sie Politisches mit Verstörendem vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege: Während der Biennale 1997 saß sie auf einem Berg von 1500 stinkenden, blutigen Rinderknochen, schrubbte sie mit einer Bürste sauber und sang Totenlieder aus ihrer Heimat. Für "Balkan Baroque" bekam sie den Goldenen Löwen.

Die Autobiografie ist bei Luchterhand erschienen, hat 480 Seiten und kostet 28 Seiten.

Die Autobiografie ist bei Luchterhand erschienen, hat 480 Seiten und kostet 28 Seiten.

Über sich selbst schreibt Abramovic, sie empfinde sich als drei Marinas. Da seien "die Kriegerin", die willensstark durch Mauern geht, und "die Spirituelle", die in einem Himalaja-Kloster über eine Million Mal das Tara-Mantra betet und mit den australischen Aborigines bei unerträglicher Hitze Träume deutet. Und dann gäbe es noch "die Jammertante", die glaube, "dass sie alles falsch macht, die sich fett, hässlich und ungeliebt fühlt".

Allen drei "Marinas" begegnet der Leser in der Autobiografie, in der Abramovic lebendig und zuweilen etwas vollmundig ihre einzelnen Aktionen beschreibt und von wichtigen Augenblicken, Begegnungen und Menschen berichtet. Das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern bleibt das ganze Buch über ein Thema, ebenso wie ihre großen Lieben, die sie voller Leidenschaft lebte und die alle dramatisch endeten. Besonders spektakulär war die Trennung von Ulay.

Abramovic bleibt ein Rätsel

Mit dem deutschen Künstler verband sie eine intensive Beziehung. Sie führten ein nomadisches Leben in einem Citroën-Bus, rannten bei Kunstaktionen mit voller Wucht nackt gegeneinander oder ohrfeigten sich ohne Unterlass. Dann besiegelte "The Lovers" das Ende ihrer gemeinsamen Zeit: Jeder startete an einem Ende der Chinesischen Mauer und nach jeweils 2500 zurückgelegten Kilometern trafen sie sich in deren Mitte - nicht um dort, wie ursprünglich geplant, zu heiraten, sondern um sich nach 12 Jahren voneinander zu verabschieden.

Wo hört das Privatleben auf, wo beginnt die Inszenierung? Genau kann man das bei Abramovic nie wissen. Und so bleibt auch nach der Lektüre von "Durch Mauern gehen" vieles an dieser so radikalen Frau ein Rätsel - ein gleichsam faszinierendes wie irritierendes.

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Quelle: ntv.de

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