Film und Serien

Zwischen Fußball und Freitagsmotette Ein Jahr mit dem Thomanerchor

Der Thomaner tritt regelmäßig drei Mal die Woche in der Leipziger Thomaskirche auf. Die sogenannte Kieler Bluse ist das Markenzeichen der Thomaner und wird von den jungen Sängern bis zum Stimmbruch getragen.

Der Thomaner tritt regelmäßig drei Mal die Woche in der Leipziger Thomaskirche auf. Die sogenannte Kieler Bluse ist das Markenzeichen der Thomaner und wird von den jungen Sängern bis zum Stimmbruch getragen.

(Foto: dpa)

Der Thomanerchor genießt Weltruhm. Dass die jungen Sänger sich den Erfolg hart erarbeiten müssen, zeigen zwei Dokumentarfilmer, die den Chor anlässlich des 800-jährigen Jubiläums ein Jahr lang begleitet haben. Der Film "Die Thomaner" lebt von dem kindlichen Charme seiner Protagonisten und ihren großartigen Stimmen - lässt aber zu viele Fragen offen.

Johannes hat es geschafft. Er darf im Thomanerchor mitsingen. "Das war schon immer mein Ziel", sagt der Neunjährige. Was genau auf ihn zukommt, weiß er nicht. Bei einem ersten Rundgang durch das Internat zeigt ihm Oskar, eines der älteren Chormitglieder, eine ganz besondere Liste. Ganz oben sind die 16 besten Sänger aufgeführt. Mit einem Augenzwinkern bemerkt er: "Da wollen wir dich in zwei Jahren sehen, alles klar?"

Eines der Nachwuchstalente muss bei der Aufnahmeprüfung vom Blatt singen.

Eines der Nachwuchstalente muss bei der Aufnahmeprüfung vom Blatt singen.

(Foto: ACCENTUS Music)

Gleich zu Beginn des Films "Die Thomaner" zeigt sich hinter diesem so beiläufig dahergesagten Satz, was von Johannes und den anderen fast 100 jungen Sängern im Alter von 9 bis 18 Jahren tagtäglich erwartet wird: Disziplin, Leistungsbereitschaft und der Wille zur Perfektionierung der eigenen Stimme. Denn sie sind Thomasser, wie sie sich selbst nennen. Und damit Teil einer 800-jährigen Tradition.

Anlässlich dieses beachtlichen Jubiläums haben die Dokumentarfilmer Paul Smaczny und Günter Atteln den weltberühmten Knabenchor aus Leipzig ein ganzes Jahr lang begleitet. Sie sind mit ihren Kameras bei den Aufnahmeprüfungen der jungen Gesangstalente und den Abschiedsfeiern der Abiturienten dabei, bei der umjubelten Tournee durch Südamerika, beim traditionellen Fußballmatch gegen den Dresdener Kreuzchor. Und sie folgen den Sängerknaben durch ihren Alltag. Und der ist alles andere als ein Kinderspiel.

"Ein Sensibelchen hat es schwer"

Direkt nach der Schule und einem 15-minütigen Mittagessen starten die Thomaner in den anstrengenden zweiten Teil des Tages: Bis zum Abend wechseln sich verschiedene Chorproben, Stimmbildung und Instrumentalunterricht ab. Dass nebenbei auch noch gewissenhaft die Hausaufgaben erledigt werden, ist eine Selbstverständlichkeit. Für Freizeit bleibt da wenig Raum.

Thomaskantor Georg Christoph Biller weiß, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen. Er war selbst Thomaner.

Thomaskantor Georg Christoph Biller weiß, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen. Er war selbst Thomaner.

(Foto: ACCENTUS Music)

"Ein Sensibelchen hat es schwer", gibt Georg Christoph Biller unumwunden zu. Als Thomaskantor ist es seine Aufgabe, den Chor trotz ständig wechselnder Besetzung permanent auf höchstem künstlerischen Niveau zu halten. Der Anspruch ist klar definiert: "Nett singen reicht nicht".

Unter Billers Leitung studieren die Thomaner - neben dem Programm für große Konzerte im In- und Ausland – jede Woche innerhalb von fünf Tagen eine Motette von Johann Sebastian Bach ein, die dann am Freitag in der Thomaskirche aufgeführt wird. Auch Samstag und Sonntag begleiten sie mit ihren glasklaren Stimmen den Gottesdienst.

Besonders wenn sich die christlichen Feiertage häufen, kostet es die Thomaner viel Kraft, ihr hohes Pensum zu bewältigen. Da ist einer der Jungen schon mal dankbar dafür, krank geworden zu sein, um sich übers Wochenende zu Hause bei der Familie ausruhen zu dürfen.

Aber der große Erfolg beim Publikum entschädigt für die Phasen der Mühsal. Wenn der Applaus losbricht, sind die harten Probenzeiten vergessen. "Ein geiler Moment", kommentiert Oskar nach einem Konzert in Buenos Aires. "Besser geht es nicht".

Gemeinschaft steht über allem

Ohne wirkliche Leidenschaft für die Musik wäre der straffe Zeitplan nicht zu bewältigen. Und die ist bei den Thomanern zu spüren - egal, ob beim Singen der h-Moll-Messe vor großem Publikum oder beim Trällern eines humorigen Trinkliedes im Tourenbus. Die Musik hält das Traditionsensemble zusammen und führt zum Kerngedanken des Konzepts "Thomanerchor": die Gemeinschaft, in die es sich einzuordnen gilt.

Fußball ist die zweite große Leidenschaft der meisten 9- bis 18-Jährigen. Im Bild: Oskar (M) und Johannes (r).

Fußball ist die zweite große Leidenschaft der meisten 9- bis 18-Jährigen. Im Bild: Oskar (M) und Johannes (r).

(Foto: ACCENTUS Music)

Und unterzuordnen. So ist das Leben im Alumnat, in dem die Jungen und jungen Männer in altersgemischten Stuben zusammenwohnen, streng hierarchisch aufgebaut. Es herrscht eine klare Aufgabenteilung und das Erziehungskonzept sieht vor, dass sich die Älteren um die Jüngeren kümmern und, wenn sie es für nötig erachten, Strafen in Form von gemeinnütziger Arbeit verhängen.

Eine Kindheit zwischen Chorprobe, Fußball und Freitagsmotette, zum Teil weit weg von der eigenen Familie, eingegliedert in eine Gruppe mit ganz speziellen Regeln - wie beurteilen die Thomaner selbst ihr Leben als Sängerknabe?

Die Abiturienten, die am Ende des Films den Chor verlassen, ziehen ein ganz unterschiedliches Fazit. Während Maximilian begeistert auf die vergangenen zehn Jahre zurückblickt und die Entscheidung für den Chor jederzeit wieder treffen würde, kann Stefan das nicht mit Bestimmtheit behaupten: "Die Dinge, die man aufgibt, waren für mich teilweise zu groß".

Was ist, wenn der Leistungsdruck zu groß wird?

Neben den Äußerungen von Johannes' Mutter, die sich nicht sicher ist, ob sie ihren Sohn schon in so jungen Jahren "abgeben" möchte, ist das einer der wenigen Momente, in denen der Film Zweifel zulässt. Die Regisseure zeichnen vielmehr ein von Harmonie geprägtes Bild eines außergewöhnlichen Mikrokosmos. Als Zuschauer gewinnt man den Eindruck, dass der - absolut berechtigte - Respekt vor der Leistung der Thomaner jeden kritischen Seitenblick verhindert.

Entschädigung für den harten Probenalltag: Der Thomanerchor wird im Teatro Colón in Buenos Aires frenetisch gefeiert.

Entschädigung für den harten Probenalltag: Der Thomanerchor wird im Teatro Colón in Buenos Aires frenetisch gefeiert.

(Foto: ACCENTUS Music)

Dabei wäre es wünschenswert gewesen, zu erfahren, ob Jungen den Chor verlassen, weil der Leistungsdruck zu groß wird; wie sich die Thomaner mit Gleichaltrigen außerhalb der Internatsmauern verstehen; was es für die Teenager innerhalb der Gemeinschaft bedeutet, wenn sie während des Stimmbruchs längere Zeit nicht im Chor mitsingen können; welche Konflikte und Risiken das Erziehungskonzept im Alumnat wirklich birgt. Und auch die eine oder andere Meinung eines Ehemaligen, der mit einigen Jahren Abstand auf das Leben als Thomaner zurückblickt, hätte nicht geschadet.

Trotz dieser Defizite ist der Film eine sehenswerte (und vor allem hörenswerte!) Momentaufnahme eines Ausnahmechores, die vor allem von der kindlichen Weisheit, dem Charme und der Redegewandtheit der Thomaner lebt.

Der Film "Die Thomaner" ist seit dem 16. Februar in den Kinos zu sehen.

Quelle: ntv.de

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