Im Benz rückwärts durch den Stau Bertha und Sunny fahren in die Zukunft
21.11.2014, 10:18 Uhr
Bertha dreht in Kalifornien ihre Runden ganz allein.
Das Leben der Menschen verlagert sich aus den großen Städten in die Randbezirke. Um mobil zu bleiben, wird das Auto zum Mittelpunkt des Alltags. Das Fahrzeug soll sich in Zukunft wie von Geisterhand durch den Verkehr bewegen. Wie das geht, erproben Bertha und Sunny in Kalifornien.
Es ist ein Jahr her, dass sich eine Mercedes S-Klasse auf den Weg machte, die legendäre Strecke der Bertha Benz von Mannheim nach Pforzheim zu fahren. Allerdings nicht geführt durch einen Piloten, sondern völlig allein, also autonom. Ob des Erfolges wurde der Wagen von den Technikern liebevoll Bertha getauft. Heute lebt Bertha in Sunnyvale im US-Bundesstaat Kalifornien. Nein, Bertha ist nicht ausgewandert, sondern wurde zu Forschungszwecken ins Silicon Valley gebracht. Denn nur im Sonnenstaat der USA sind die Gesetze so, dass man auch im öffentlichen Straßenverkehr Testfahrten ohne Piloten machen kann.
Bertha lernt sich zu orientieren
Bertha ist dort gemeinsam mit Sunny unterwegs, der zweiten S-Klasse, die mit entsprechender Technik ausgerüstet ist, um ganz allein ums Eck zu fahren. Dazu gehören etliche Sensoren, Front- und Heckkamera, eine GPS-Antenne und natürlich ein leistungsfähiger Rechner, der die ihm zur Verfügung gestellten Daten berechnet und in relevante Fahrbefehle umsetzt: Die Ampel ist rot - halt. Ein Fahrzeug quert die Fahrbahn - bremsen. Ein Kind rennt auf die Fahrbahn - Vollbremsung. Das alles aber muss gelernt werden. Genau wie die Wege, die es zu fahren gilt. Erst wenn die Maschine alle Eckpunkte verinnerlicht hat, sich an Bäumen, Häusern und Lichtmasten orientieren kann, wenn sie Baustellen erkennt und genau zwischen unterschiedlichsten Situationen zu unterscheiden versteht, können unvorhergesehene Situationen mit einer entsprechenden Aktion bewältigt werden. Später soll ein Datenaustausch aller Fahrzeuge Wegstrecken erfassen und in der Vernetzung so auch abgelegene Straßen zu autonom befahrbaren Sicherheitszonen machen.
Wie man hier mit den sensiblen Daten umgeht, die bei allen autonomen Fahrten auflaufen, haben sich die Stuttgarter im Silicon Valley auch schon überlegt. Fahrdaten aus dem laufenden Verkehr werden, wie heute schon beim Life Traffic, an andere Fahrzeuge weitergereicht. Ein sogenannter Event Recorder zeichnet in einem Ringspeicher die letzten 30 Sekunden auf, überschreibt sie aber nach Ablauf dieser Zeit sofort wieder beziehungsweise löscht sie, wenn der Wagen zum Stillstand kommt. Auch Autos und Menschen sind angesichts der Tatsache, dass hier Datenmengen von 100 MB pro Sekunde durchgereicht werden, in der Aufzeichnung nur Schemen, die nicht zu identifizieren sind. Lediglich ein möglicher Unfallhergang soll so rekonstruierbar sein.
Ab 2030 fährt Mercedes autonom
Doch noch wirkt die Fahrt mit Bertha etwas unrund. Die Bremsvorgänge sind abrupt und mit großer Vorsicht und Achtsamkeit schleicht sie um die Kurve. Letztlich werden die Protokollstrecken wieder und wieder gefahren, um jede Abweichung auszuwerten und Bertha immer größere Sicherheit bei ihren Aktionen zu geben. Doch bis es so weit ist, müssen die beiden Damen noch einige Runden in Kalifornien drehen und Axel Gern, einer der Verantwortlichen für die autonomen Testfahrten, wird wohl noch das eine oder andere Mal selbst auf die Bremse treten, um sicherzugehen, dass Bertha und Sunny sich nicht das Blech verbeulen. Laut Mercedes sollen aber bis spätestens 2030 die ersten Autos autonom auf den Straßen fahren.
Doch nicht nur darüber macht man sich in Sunnyvale Gedanken. Bereits seit 20 Jahren forschen die Stuttgarter an der Mobilität der Zukunft. Und die ist komplex. Denn nicht nur die schlichte Fahrt steht im Fokus der Überlegungen, sondern auch die Frage, was die Insassen eines autonom fahrenden Wagens mit ihrer Zeit machen, wie sich der Raum um sie herum gestaltet und welche Rolle Mobilität in einer Zukunft spielt, in der sich das Leben der Menschen vor allem in die Randgebiete der immer größer werdenden Metropolen dieser Welt verlagern wird. Fragen, auf die es noch keine abschließenden Antworten gibt, aber Lösungsansätze.
Raum- und Zeitgewinn
Für den Chef in Sunnyville, Herbert Kohler, steht fest: Das Auto wird in Zukunft ob der Freiheiten, die es dank des autonomen Fahrens bietet, eine Art zweites Zuhause werden, das zwei der wichtigsten Güter der Zukunft für die Menschen bereithält: Zeit und Raum. Die Zeit wird gewonnen, weil sich der Pilot nicht mehr um die Steuerung des Wagens kümmern muss und für den Raum gibt es völlig neue Konzepte. So sind die Lounge-Sitze um 180 Grad zu drehen, damit die Kommunikation zwischen erster Reihe und Fondpassagieren gewährleistet ist, und ein multifunktionaler Tisch, der auch die zentrale Multimediaeinheit bildet, sorgt für Kurzweil.
Interieur-Designer Michele Jauch Paganetti glaubt fest daran, dass das Auto der zweite Raum neben dem Zuhause wird, in dem man mit den Kindern Zeit verbringt, nachdem sie von der Schule abgeholt wurden. In dem Filme geguckt werden, während sich der Wagen ohne Zutun durch den lästigen Stop and Go der Rushhour quält. Oder es werden auf dem Weg zur Arbeit Dinge erledigt, die sonst im Büro aus Zeitmangel liegen blieben.
Ein Konzept für Mega-Citys
Allerdings zielt das Konzept auf Mega-Citys ab, wie es sie in Deutschland bis zum Jahr 2030 wohl nicht geben wird. Für Europa prognostizieren die Analysten eher einen Rückgang der Einwohnerzahlen, während vor allem in den USA die Großstädte explodieren werden. Allein Las Vegas hat sein Areal in den letzten 20 Jahren verdoppelt.
Der Trend geht dahin, dass die Menschen in den Außenbezirken leben und sich täglich in die Zentren zur Arbeit aufmachen. Schon heute verbringen die US-Amerikaner täglich 45 Minuten im Auto und die Zeit wird weiter zunehmen, denn bis 2030 werden in den USA 40 Millionen Menschen mehr leben als jetzt. Und auch an der Tatsache, dass 96 Prozent der Bürger der Vereinigten Staaten ein Auto haben und dies mit durchschnittlich 23.500 Kilometern Jahreslaufleistung auch benutzen, wird sich nichts ändern.
Insofern dürften die Nachkommen von Bertha und Sunny wohl ihre Hochzeit zuerst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten erleben. Ob es das autonome Fahren dann aber nur in einer S-Klasse geben wird, darf bezweifelt werden, denn nur ein Bruchteil der 40 Millionen Menschen wird sich einen solchen Luxusliner leisten können.
Quelle: ntv.de