Messestreifzug in São Paulo Wer offenbart und wer verhüllt
23.10.2012, 12:26 Uhr
Farbenfroh: So sehen Taigun-Insassen den São- Paulo-Autosalon.
Bisher lässt sich die Auto-Welt gut mit einem halbierten Globus darstellen: Alles, was in der Mobilitätsindustrie von Bedeutung ist, spielt sich in der nördlichen Hemisphäre ab. Das könnte sich bald ändern, denkt man bei Volkswagen - und beschickt mit einem bisher nie da gewesenen Aufwand an Personal und Material den Autosalon in São Paulo.
Fast wolkenloser Himmel, 30 Grad im Schatten - die brasilianische Metropole São Paulo bereitet sich auf den nahen Sommer vor. Was schon jetzt kräftig blüht, ist der Automarkt. Das anhaltende Wachstum könnte Brasilien bis zum Ende des Jahrzehnts zu einem der wichtigsten Absatzgebiete für Fahrzeuge aller Art machen. Experten schätzen das mögliche Volumen auf bis zu fünf Millionen Pkw jährlich, schon jetzt ist das Land unter den Top 5 der Weltrangliste.
Waren bislang Detroit, Genf, Frankfurt oder Tokio die Hot Spots der Industrie-Schauen, wo alljährlich die Konzeptstudien für künftige Modellreihen und neusten Serienprodukte dem Publikum vorgestellt wurden, haben sich die Gewichte mittlerweile verschoben. Die Messen in Shanghai und Peking sind zum Kräftemessen der europäischen mit den einheimischen Herstellern geworden, nur die Südhalbkugel der Erde blieb weitgehend unterbelichtet. Aber jetzt wird geklotzt. Mehr als 5000 Quadratmeter hat VW in der Messehalle São Paulo belegt.
Pflöcke für neue Claims
Rund 10.000 Kilometer von Wolfsburg entfernt sind Martin Winterkorn sowie seine drei Vorstandskollegen für Entwicklung, Produktion und Vertrieb unterwegs, um bestellte Felder einzuzäunen und Pflöcke für neue Claims einzuschlagen. Auf dem Autosalon in São Paulo enthüllten sie jetzt ein Konzeptfahrzeug, das eine Blaupause für künftige Entwicklungs- und Verkaufsrichtungen werden könnte. Als "unsere Vision eines kompakten SUV", erklärte Entwicklungsvorstand Ulrich Hackenberg, wäre ein etwaiges Serienmodell Taigun "ganz auf Brasilien zugeschnitten".
Auch bei Volkswagen war es jahrzehntelange Praxis, in Europa aus der Mode gekommene Modelle für exotische Märkte weiter produzieren zu lassen: Der legendäre Käfer, aber auch der Transporter T2 oder die Limousine Santana legen davon Zeugnis ab. Das geht heute nicht mehr. Die Kunden in den Schwellenländern, so Hackenberg, hätten inzwischen, wenn es ums Auto geht, "die gleichen Forderungen und Bedürfnisse wie die Kunden in Europa oder Asien". Das sind hohe technische Reife und gute Qualität, aber auch "vernünftige Preise", so der Chef-Entwickler.
Im VW-Designstudio in Potsdam wurde der Taigun unter Beteiligung brasilianischer Fachleute konzipiert und gestylt. Mit Hochdruck musste die Idee ins Werk gesetzt werden, denn nach der Entscheidung, eine fahrfertige Studie nach São Paulo zu bringen, blieben kaum fünf Monate Zeit. Der hohe, kantige Aufbau und die muskulösen Radhäuser weisen ihn als urbanen Cross-Over aus, der auch mal jenseits der Straße nach Wegen sucht. Die Modellverwandtschaft ist eher im VW Up! als im Polo zu suchen. Da allerdings kein Allradantrieb vorgesehen ist, sei die gepflasterte Straße, so Hackenberg, eher das für dieses Auto "typische Szenario". Hinter einer zweigeteilten Heckklappe verschwinden bis zu 987 Liter Gepäckvolumen.
Taigun-SUV auch für Europa?
Sollte der Taigun in Serie gehen, wird er einen 1,0-Liter-Dreizylindermotor haben, der mittels Turboaufladung 110 PS leisten soll. Sein stattliches Drehmoment von 175 Newtonmeter dürfte ihn auch zum Antrieb größerer Baureihen qualifizieren. Ein Einsatz im Golf wäre nicht auszuschließen, auch wenn das heute noch niemand bestätigen möchte. Eine zarte Andeutung, dass auch europäische Kunden in den Genuss dieses Fahrzeugs kommen könnten, mochte Ulrich Hackenberg sich dennoch nicht versagen. Man sei gespannt auf die Reaktion des Publikums, denn "vielleicht ist der Taigun nicht nur für den brasilianischen Markt geeignet".
Mit Respekt und Wohlwollen, so war vielerorts zu hören, haben die Messe-Verantwortlichen den personellen Großeinsatz von Volkswagen zur Kenntnis genommen. Mit sicherem Gespür für die Leidenschaften des einheimischen Publikums wurde auch die Fußballbegeisterung der Brasilianer für die Konzerninteressen genutzt. Der Auftritt des Kicker-Idols Neymar vom FC Santos und einer Schar quirliger Fußballzwerge in Nationalfarben dürfte Volkswagen Aufmerksamkeit auch außerhalb der Kfz-Fachmedien des Landes gebracht haben.
Konzernchef Martin Winterkorn nahm sich derweil ungewöhnlich viel Zeit, in São Paulo auch bei anderen Herstellern nach dem Rechten zu sehen. Ein Kanzler-Rundgang auf der Hannover Messe kann kaum mehr Bedeutung entfalten. Keine Überraschung freilich war mehr die Tatsache, dass er bei den Hyundai-Exponaten besonders genau hinschaute.
China rüstet in Südamerika auf
Anders als zum Beispiel in Genf, Frankfurt oder Paris, wo chinesische Autohersteller einen schweren Stand gegen die europäischen Marken haben und im Zweifelsfalle lieber zu Hause bleiben als Unsummen in ein Messe-Engagement von fragwürdigem Erfolg zu stecken, zeigen sie auf der wichtigsten Autoshow Südamerikas selbstbewusste Präsenz. Auch sie wollen etwas von dem Fünf-Millionen-Kuchen abhaben, der jetzt in die Backröhre geschoben wird.
Wegen der horrenden Importzölle sind viele Hersteller längst mit Produktionskapazitäten vor Ort. Chery, Great Wall, CN Auto und JAC sind nur die wichtigsten Marken aus dem Reich der Mitte, die sich von der wachsenden Nachfrage Erfolg versprechen. Wo die Preise stimmen, sind in den Augen mancher Südamerikaner Fragen nach Komfort oder Design möglicherweise weniger relevant als sie es anderswo wären.
Schon zum 27. Mal findet der Autosalon in São Paulo statt. Dass die Präsentationskultur sich von derjenigen auf der Nordhalbkugel unterscheidet, muss jedem auffallen, der die Möglichkeit zum Vergleich hat. Während in Paris oder Shanghai nur gertenschlanke Models das ästhetische Beiwerk zu den High-Tech-Kompositionen der Hersteller abgeben dürfen, scheint der durchschnittliche Autokunde zwischen Rio Tietê und Rio Pinheiros üppigere weibliche Formen als geeignete Dekoration für gewölbte Kotflügel und gestreckte Hauben anzusehen.
Das künstliche Erzeugen von Spannung ist ein weiterer Aspekt der Inszenierung, den man so bei anderen Messen nicht kennt. Als hätte Verpackungskünstler Christo einigen Standmanagern die Hand geführt, bleiben viele Modelle stundenlang von grauen Stoffhauben oder weißen Tüchern umgeben, obwohl das darunter stehende Auto längst keinen Neuigkeitswert mehr besitzt. So gut wie Jaguar und Land Rover beherrschte jedoch keiner die Verhüllungskunst am ersten Pressetag der Messe: Bis zum Nachmittag blieb der komplette Stand, immerhin rund 50 mal 25 Meter groß, eine unifarbene Black Box - umgeben von hunderten Quadratmeter schwarzen Vorhangs.
Quelle: ntv.de