
Schon bei Prometheus ging es darum, seine Fesseln abzustreifen und dem Tyrannen die Stirn zu bieten.
(Foto: imago images/CHROMORANGE)
Unsere Autorin fühlt sich vom Internet immer mehr ans antike Theater erinnert. Das ist keineswegs positiv gemeint. Auch wenn nun manch einer sein Restwissen über griechische Mythologie reaktiviert, sollten derlei archaische Methoden doch längst ausgedient haben.
Ich weiß nicht, ob Sie so oft im Internet unterwegs sind wie ich, aber ich kann Ihnen sagen, es ist ein ganz schönes Theater. Und mit Theater meine ich nicht, dass man Eintritt bezahlt, ein oder zwei völlig überteuerte Gläser halbtrockenen Sekt kauft und dann konsumieren muss, was man von KünstlerInnen vorgetragen bekommt, um dann entweder beseelt oder unbefriedigt nach Hause zu gehen. Es gibt im Internet auch niemanden, der einem ehrfürchtig seinen Platz zeigt und wo die Toiletten sind, falls man sie mal braucht.
Während man in dieser Art von Theater mit mitgebrachten Hustenbonbons (Geschmacksrichtung: Eukalyptus) versucht, einen Hustenanfall während des dramatischen Höhepunkts zu vermeiden, um möglichst wenig Aufmerksamkeit von den Akteuren zu stehlen, geht es in unserem guten alten Internet-Amphitheater eher darum, wer am lautesten und ausdauerndsten schreien kann. Es gilt: Wer schreit, hat recht und wer die meisten Großbuchstaben und Ausrufezeichen innerhalb eines Facebook-Posts verwendet, ist stinksauer und will, dass das alle wissen.
Für mich fühlen sich das Internet und dessen diverse Social-Media-Kanäle nicht an wie bildungsbürgerlicher Austausch von Kunst, Kultur und Musik, sondern eher nach archaischer griechischer Tragödie. Überall ist was los, kein Mensch weiß, wie lange der nächste Akt dauert und ob die Leute auf der Bühne sich eigentlich nur auf dem Weg zur Toilette verirrt oder da wirklich was zu suchen haben. Der Chor singt stundenlang Klagelieder, es wird viel intrigiert, gemeuchelt und gelästert und nach spätestens drei Stunden haben alle Beteiligten den Überblick über dievielen ProtagonistInnen und Handlungsstränge verloren. Manche reagieren dann darauf, indem sie das Internet für eine Runde gesunden "Digital Detox" verlassen. Andere schlafen einfach ein, bis die nächste Sau durchs digitale Dorf getrieben wird und die Handlung wieder etwas mehr Fahrt aufnimmt.
Jackpot unter den antiken Bestrafungen
Ich sitze dann meistens vor meinem Laptop und fühle mich wie Prometheus, der von den Göttern als Strafe an einen Felsen gefesselt wurde und dort von einem Adler seine immer wieder nachwachsende Leber fressen lassen muss. Nicht schön, aber wirklich selten und irgendwie kann man auch nicht aufhören zu scrollen. Wenn das mal nicht der Jackpot unter den antiken Bestrafungen ist, dann weiß ich auch nicht weiter.
Während ich mich so durch verschiedenste Shitstorms und wüste Beschimpfungen in Kommentarspalten und LeserInnenmails wühle und mich frage, warum ich nicht mal wieder öfter rausgehe oder mir einfach Freunde suche, stoße ich auf einen Begriff, der selbst für mich neu ist: Cancel Culture. Um es auf Deutsch auszudrücken, könnte man sagen, dass es hier um die Kultur des Absetzens geht. Vor allem in den sozialen Medien wird beim Canceln zum Boykott von Personen, Prominenten und Künstlern aufgerufen, die sich entweder online oder im echten Leben fragwürdig, falsch oder unpassend verhalten haben. Diese Personen werden oft öffentlich an den Pranger gestellt, indem ihr Verhalten oder ihre Aussagen kritisiert werden. Außerdem wird online aktiv versucht, ihre Reichweite und damit schlichtweg ihren Ruf unwiederbringlich zu ruinieren.
Das Absetzen eines Menschen im Internet. Das sind mal antike Ausmaße. Und dafür muss man nicht mal vor die Tür gehen. Früher haben die Leute wenigstens noch Schilder bemalt, wenn ihnen jemand nicht gepasst hat, jetzt reicht es, ein paar Tasten zu drücken, und Sisyphos rollt den Felsbrocken für den Rest seines Lebens den Berg hinauf, ohne jemals auf dem Gipfel anzukommen.
Jetzt sogar in 5G
Die Cancel Culture hat Techniken wie das sogenannte Doxing hervorgebracht, bei dem Unbekannte über das Internet personenbezogene Daten wie die eigene Adresse und Telefonnummer zusammentragen und veröffentlichen, um einer Person zu schaden. Und dann sagen die Leute wirklich, die Antike war brutal? Das will mir nicht so recht in den Kopf.
Wie bigott kann eine Gesellschaft sein, die einerseits an die Menschlichkeit eines jeden appelliert, uns mit dem Spruch "Irren ist menschlich" erzieht, um dann mit aller Härte der Anonymität des Internets Existenzen zu zerstören? Ein Haufen Fremder rottet sich zusammen, nur um sicherzustellen, dass Betroffene nie wieder einen Fuß in die Öffentlichkeit setzen können. Verurteilt von der öffentlichen Meinung, da braucht es gar keine Richter mehr und Eintritt brauchen wir dafür erst recht nicht zu bezahlen. Das gibt es alles umsonst dazu zum Internetanschluss, völlig gratis, jetzt neu sogar in 5G.
Das Ganze treibt bizarre Blüten. Plötzlich ist alles gecancelt. Nicht nur Menschen, die sich problematisch äußern, sondern auch alte Filme, Serien, Bücher und Musik. Abschaffen, löschen, unsichtbar machen. Puff, alles wieder gut. Kein Problem. Habt ihr was gesehen? Ich nicht. Wollt ihr noch Sekt?
Theseus und der Ariadnefaden
Vielleicht sollten wir noch einmal einen kurzen Blick in unsere Geschichtsbücher werfen, bevor wir zur brennenden Mistgabel greifen und ganze Menschengruppen einfach so canceln. Einfach mal nach vorne blättern zum Kapitel Aufklärung. Ein aufgeklärter Mensch hat vielleicht nicht so viel Unterhaltungswert wie eine kunterbunte Schlammschlacht im Netz inklusive Werbeunterbrechungen, aber dafür weiß er ganz genau, dass Menschen eben genau das sind: nämlich nur Menschen. Auch wenn das Internet dies oft nicht vermuten lässt, ist der nämlich dazu gemacht, nachzudenken. Nachzudenken über seine Meinung, seine Fehler, und seine Konsequenzen daraus zu ziehen. Vielleicht ändert dieser Mensch seine Meinung sogar, wenn er der Kritik durch die Öffentlichkeit ausgesetzt ist, und lernt draus. Das geht natürlich nur, wenn man ihn nicht abschafft.
Menschlichkeit ist wirklich nicht spektakulär und ich bin nicht sicher, ob ihr Instagram-Account eine bezahlte Partnerschaft mit großen Unternehmen finden würde, aber dafür sitzt sie in uns allen. Und ihr ab und zu mal zuzuhören, könnte wirklich nicht schaden. Selbst wenn es nur aus dem egoistischen Grund passiert, dass wir Menschen mit mehr Nachsicht behandeln, als sie es verdient hätten, weil wir selbst auch so behandelt werden wollen. Kritik ist richtig und wichtig, aber die Löschtaste ersetzt keine Diskussion und erst recht nicht unsere Vorstellungen von Moral. Es ist ja ganz nett, wenn wir von unbequemen Menschen nichts mehr hören, aber das heißt noch lange nicht, dass sie dann verschwunden sind. Gerade wenn es um sensible Themen wie Rassismus und Sexismus geht, muss eine besonders offene Gesprächskultur her, die auch dahin geht, wo es wehtut, um den Status Quo aufzuheben.
Wie das antike Theater quillt auch das Internet zu jeder Tages- und Nachtzeit über vor Intrigen, Gerüchten und Meinungsmache, aber mit ein bisschen Glück und Empathie können wir wie Theseus mit dem Ariadnefaden aus dem Labyrinth entkommen und goldene Helden werden. Natürlich müssen wir dafür nicht mal jemanden canceln. Das ist sowieso Quatsch. Das Foto davon macht sich sicher auch gut auf Instagram. Außerdem: Lesen Sie doch mal wieder griechische Mythen, bevor Sie in die Kommentarspalte abtauchen. Die sind wirklich spannend, besser als jeder Shitstorm, vor allem mit einem Glas halbtrockenen Sekt.
Quelle: ntv.de