
"Es ist alles im Ausgleich", sagt Frau Nena zum Herrn Flori.
(Foto: IMAGO/Christian Schroedter)
Wenn Sie die Welt wahnsinnig gut verstehen wollen, müssen Sie einfach "in die Tiefen hineingehen", in die "Lichtschichten". Oder Sie schauen eine Sendung mit Florian Silbereisen und seinen "Stars". Ein Erweckungserlebnis, wie unser Kolumnist zu wissen glaubt.
Hochverehrtes Publikum, willkommen in meinem neusten Gedankenerguss. Falls Sie mir nicht folgen können, grämen Sie sich nicht – das passiert mir immer wieder auch selbst. Ich bin mir nach Jahrzehnten auf der Erde immer noch ein Rätsel, was mit meinem Unterbewussten, dieser Sau, zu tun hat. Außerdem: Sie haben es so gewollt, niemand hat Sie gezwungen, die Überschrift anzuklicken.
Ich habe lange überlegt, ob ich, eine als Mann gelesene Person, heute einmal als Frau schreibe. Oder als Weiß-nicht-genau. Es wäre eine noch größere Herausforderung für Sie, ein Werk einer sonst als Mann gelesenen Person zu lesen, die urplötzlich als Frau oder Weiß-nicht-genau schreibt. Das würde meine Chancen erhöhen, endlich einen Preis zu gewinnen, wobei die Jury natürlich nur meine künstlerischen Qualitäten loben würde und nicht, wer ich bin in dieser Welt. Das spielt keine Rolle. Hauptsache ist, dass ich ein Sehr-Gutmensch bin und bleibe.
"Er ist halt crazy!"
Schluss damit. Ich will Sie nicht noch mehr verwirren in diesen Zeiten des großen Irrsinns. "Wahnsinn in Madrid: Hradecky pariert Elfer nach Abpfiff", lese ich und denke: Wahnsinn! Muss der arme Torhüter nun in die Psychiatrie, nur weil er seinen Beruf bestmöglich ausführt? Wäre es so, wäre auch ich reif für die Klapse. Tatsächlich denke ich oft, dass ich bald durchdrehe, was nicht nur mit meinen neuen Nebenkosten zur Miete zu tun hat.
Ich gebrauche die Wörter wahnsinnig, irre und verrückt häufiger als früher, am liebsten verstärkt durch ein total davor. Wenn ich den oben erwähnten Preis erhielte, würde ich sagen: "Ich freue mich wahnsinnig über den Preis. Total verrückt, dass die Jury mich auserkoren hat." Dann würde ich mir die Haare rasieren und "Venceremos" singen, weshalb es bald bei Twitter hieße: "Der singt irre schlecht." Meine Verteidiger antworten dann: "Er ist halt crazy." Und: "Er hat den Preis fürs Schreiben gewonnen und nicht fürs Singen." Dann kommt Harry Welzer (Anm. d. Red.: ein bei "Anne Will" und anderen Gelegenheiten auffällig gewordener Soziologe) und meckert, dass die 45 Minuten Standing Ovations für einen, der für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine ist und damit seinen Teil zur "gesinnungsethischen Überanstrengung" leistet, eindeutig zu lang waren.
Auf eine so wahnsinnig intellektuell klingende Worthülse wie "gesinnungsethische Überanstrengung“ muss man erst einmal kommen. Ich schaffe das nicht. Aber ich habe auch nicht studiert. Ich staune sowieso häufiger, wie wortgewandt andere sind. Ein mir bis dahin unbekannter Schriftsteller, dessen Namen ich erfolgreich verdrängt habe, verteidigte jüngst im Schweizer Fernsehen ein Buch, das Elke Heidenreich und Philipp Tingler bescheuert fanden, mit den Worten, seine Kontrahenten wollten nicht "in die Tiefen hineingehen", in die "Lichtschichten, wo es beim achten Licht, diese Künstlichkeit der künstlichen Intelligenz, dieser große Reset von Schwab, derart auf den Punkt gebracht wird, dass man nämlich mit den Übermenschen, mit dem Cybermenschen, quasi den Menschen überwinden will, was ich so in dieser Schärfe und Genauigkeit noch nie gelesen habe".
Er meinte das ernst und nicht ironisch. Vor dem Great Reset kommt also der große Unsinn – und schafft es sogar ins öffentlich-rechtliche Schweizer Fernsehen. Zum Glück haben wir die ARD, eine Garantin für Schärfe und Genauigkeit. Neulich habe ich am Krankenbett eines Menschen gesessen, den ich sehr sehr mag, und mit ihm im Ersten eine Sendung mit Florian Silbereisen geschaut. Sehr-Gutmensch, wie ich nun mal bin, habe ich fast zwei von mehr als drei Stunden ausgehalten und mir ein Bild von der deutschen Kulturnation machen dürfen.
Werbung verboten, Ausnahmen für Stars
Herr Silbereisen feierte seine einhundertste "Show", wenn ich es richtig verstanden habe. Ross Sowieso nannte das "Wahnsinn". Herr Silbereisen schloss sich der Einschätzung an: "Es ist irre." Ich weiß nicht, ob sich die Feststellungen auf das Geld bezogen, das für derlei Sendungen draufgeht. Gebühren sind ja nicht abhängig von der Marktlage und den Heizkosten. Das ist aber auch zweit- oder drittrangig, weil die "Shows" offenkundig Millionen Menschen glücklich machen. Das darf man nicht vergessen in den Zeiten des Wahnsinns inklusive Depressionen.
Die ARD kam hier nach meiner Einschätzung ihrem Informations- und Bildungsauftrag nach: All die "Stars" der "Show" hatten die Möglichkeit, Spekulationen über etwaige Beziehungsprobleme widersprechen zu können. Das informiert und bildet. Für die Volkswirtschaft ist es wichtig, dass die "Stars" Werbung für ihre CDs, Tourneen und Backbücher ("Wieder tolle Rezepte von meiner Oma") nach 20.00 Uhr machen konnten, was dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eigentlich verboten ist. Aber bei "Stars" einer einhundertsten "Show" drücken wir gerne beide Augen zu.

Herr Silbereisen schließt Frauen grundsätzlich ein. Auch gern in seine Arme.
(Foto: IMAGO/Future Image)
Herr Silbereisen zeigte sich fortschrittlich und schloss Frauen ein. Also sprachlich und nicht in ein Zimmer oder Gefängnis. Er sagte stets "Zuschauerinnen und Zuschauer", um einem Shitstorm zu entgehen. Harry Welzer hatte nichts zu meckern, denn Standing Ovations gab es im eigentlichen Sinne nicht, da alle im Publikum standen. Auch People of Colour durften mitmachen. Als Andy Sowieso "Ich komm zurück nach Amarillo" sang, fügte ein Chor schwarzer Menschen ein "Schalalala" hinzu, was ich für die Leute erniedrigender fand als den Namen "Mohrenstraße". Schlager singen Weiße. Dass sich niemand aufregte, lag wahrscheinlich daran, dass die Verteidiger von Betroffenen Samstagabend bei antirassistischen Lesungen im Prenzlauer Berg waren und nicht Herrn Silbereisens einhundertste "Show" guckten.
Hat die H-Moll-Sonate von Liszt programmatischen Charakter?
Herr Silbereisen stellte den "Stars" Fragen von "Zuschauerinnen und Zuschauern", die die Nation bewegen. Sie denken jetzt an: Werde ich meine Miete morgen noch zahlen können? Wird Kreml-Putze eine Atombombe zünden? Hat die H-Moll-Sonate von Franz Liszt programmatischen Charakter? Und warum ist Van Gogh zu Lebzeiten nicht als das Genie erkannt worden, das er ohne jeden Zweifel war? Nein, jemand wollte von einem "Star" wissen, wie er es schafft, trotz seines Alters so gut auszusehen. Der präsentierte sich ungeachtet seines "Star"-Daseins als wahnsinnig normaler Mensch: "Ich seh' ganz normal aus, ich schlafe gut. Ich ernähre mich gut – und das war's auch schon. Ich bin gar nicht eitel. Wenn man denkt, ich stehe lange vorm Spiegel – stimmt alles nicht."
Von einem "Überraschungsgast" für Herrn Silbereisen war die Rede. Ein "Star" hatte einen "Hinweis", dass es "eine Sängerin ist". Herr Silbereisen sagte: "Es ist eine Sängerin." Thomas Sowieso sagte: "Es ist eine Sängerin." Eine "Star-in" (Frau) sagte: "Also weiblich". Ross Sowieso sagte: "Also weiblich." Thomas Sowieso sagte: "Ja, Sängerin ist weiblich." Die "Star-in" sagte: "Wir haben eine weibliche Künstlerin gleich auf der Bühne."
Spezialoperation "Herausfordernde Zeiten"

.... hat die Nena dem Flori was Warmes mitgebracht. That's what friends are for!
(Foto: IMAGO/Future Image)
Das war perfekte Unterhaltung, die Schwabs Reset in neuem Licht erscheinen lässt. Die "Überraschungsgästin" war Nena, die mit den 99 Luftballons. Sie sang ein Lied. "Ich glaube, dieser Song schenkt uns allen Hoffnung in dieser Zeit, in der wir leben", sagte Herr Silbereisen und konnte damit nicht mich gemeint haben. Mir schenkte das Lied gar nichts. Frau Nena meinte, dass "wir gar nicht so viel Hoffnung brauchen, sondern innere Kraft, die wir alle in uns haben". So einfach ist das also. Dann sprach Frau Nena von "herausfordernden Zeiten", was wie Spezialoperation klang. In "Shows“ redet man besser nicht über Krieg, Atombomben, Corona und Angst.
Frau Nena wollte "nicht groß Werbung“ für ihre Konzerte machen – "obwohl, warum auch nicht?" Zum Dank schenkte sie Herrn Silbereisen einen Schal. Der deutete eine Gegenleistung an, was Frau Nena offenbar für unnötig hält. "Es ist alles im Ausgleich." Supi. Dann auf zur 101. "Show"!
Quelle: ntv.de