Räuber, Nazis, Mafia Deutschland mittendrin
19.02.2010, 09:24 Uhr
Deutscher Film im Aufwind: Regisseur Burhan Qurbani ist schon mit der Teilnahme im Wettbewerb zufrieden, immerhin ist es sein Debütfilm.
(Foto: dpa)
Deutsche Filme sind auf der Berlinale so präsent wie selten zuvor. Doch es sind die jungen Regisseure, die mit unbekannten Schauspielern und intensiven Storys für Furore sorgen - und die Filmfestspiele zum Triumph des deutschen Films machen könnten.
Nahezu ein Fünftel der Beiträge bei der 60. Berlinale stammen aus deutscher Produktion oder zumindest Beteiligung. Drei der Filme gehen sogar ins Rennen um den Goldenen Bären. Sie können sich durchaus Chancen auf die Trophäe ausrechnen - und das nicht, weil der deutsche Regisseur Werner Herzog Jurypräsident ist. Beachtenswert ist, dass zwei der Wettbewerbs-Beiträge von Debütanten stammen. Sie sorgen für Begeisterung im Publikum, ganz anders als das historische Großprojekt "Jud Süß - Film ohne Gewissen".
Matti Geschonneck, der mit "Boxhagener Platz" ebenfalls einen historischen Film vorstellte, sieht in Geschichtsfilmen auch immer eine Botschaft für die Gegenwart: "Wie kann der Einzelne seine Würde bewahren - das war gestern aktuell, ist es heute, und wird es morgen sein." Es gehe um die Vermittlung von Lebenserfahrung, so Geschonneck. Es sind junge Filmemacher, die sich der Würde des Einzelnen annehmen und Impulse für gesellschaftliche Debatten liefern. Dazu passt auch, dass Hanna Schygulla und Wolfgang Kohlhaase mit Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet werden. Denn beide stehen - in West und Ost - für deutsche Filme, die zur Zeit ihres Erscheinens große gesellschaftliche Relevanz hatten oder noch heute haben.
Abtreibung und Coming-Out
Oskar Roehlers Streifen über die Entstehung von Veit Harlans Nazi-Propagandafilm "Jud Süß" ist die größte der deutschen Wettbewerbs-Produktionen. Mit Tobias Moretti und Moritz Bleibtreu – eher untypisch als Goebbels besetzt –, Martina Gedeck und Armin Rohde, Gudrun Landgrebe und Robert Stadlober setzt er eindeutig auf bekannte Stars. Doch bei der Premiere wurde der Film verhalten aufgenommen, es gab Buhrufe. Der renommierte Regisseur Jo Baier musste sich ebenfalls Buhrufe und Sätze wie "Was für ein Drecksfilm!" für seinen Historienfilm "Henri 4" gefallen lassen.
"Shahada", der Wettbewerbs-Film des Deutsch-Afghanen Burhan Qurbani, setzt sich dagegen mit den Problemen von Muslimen in der deutschen Gesellschaft auseinander: Die 19-jährige westlich orientierte Maryam gerät nach einer Abtreibung in einen schweren seelischen Konflikt, der Nigerianer Sammi entdeckt seine Homosexualität, die er nicht mit seinem Glauben in Einklang bringen kann, und Polizist Ismail muss sich mit Schuldgefühlen auseinandersetzen, nachdem er im Einsatz eine Frau verletzt hat.
"Diese Kultur ist so vielfältig"
Qurbani geht es in seinem Debütfilm darum, die Vielfalt des Islam zu zeigen. "Alle haben scheinbar dieses Bild im Kopf, dass ein Muslim entweder einen Bart oder ein Kopftuch trägt und arabisch oder türkisch aussieht", sagt der 29-Jährige. "Diese Kultur ist aber so vielfältig, so differenziert." Man wolle "hinter die Islamdebatte schauen und die Menschen wieder sehen", fügt die weibliche Hauptdarstellerin Maryam Zaree hinzu.
Darum geht es auch Feo Aladag, der in seinem Debüt "Die Fremde" mit Sibel Kekilli ("Gegen die Wand") von einer Deutsch-Türkin erzählt, die aus ihrer unglücklichen Ehe flüchtet. Ihre Familie sieht dadurch ihre Ehre beschmutzt - und wählt die Ermordung der jungen Frau als Ausweg. Am Rande der Premiere des Panorama-Beitrags kritisierte Kekilli Fehler bei der Integration von Zuwanderern in Deutschland – auf beiden Seiten. "Beide Seiten müssten mehr aufeinander zugehen", forderte sie.
Um Flucht in einem anderen Sinne geht es auch im dritten deutschen Wettbewerbsbeitrag. Benjamin Heisenbergs "Der Räuber" basiert auf einem realen Kriminalfall in Österreich: Ein Marathonläufer, der reihenweise Banken ausraubt, liefert sich eine spektakuläre Verfolgungsjagd mit der Polizei. Aus dem Publikum gab es begeisterten Applaus, aus der Kritik ein positives Echo - nicht ausgeschlossen, dass der Streifen am Ende zu höheren Ehren kommt.
"Boxhagener Platz" und Russenmafia
Zumindest wohlwollend ging das Publikum mit Geschonnecks "Boxhagener Platz" um. Vielleicht gerade, weil der Film versucht, die große, ernste - typisch deutsche - Geschichtsstunde zu umschiffen. Der Film, der 1968 im Herzen des Berliner Bezirks Friedrichshain spielt, wolle sowohl "dumme Klischees" als auch "sentimentale Ostalgie" außen vor lassen, sagte der Regisseur. Größtenteils ist ihm dies gelungen, auch wenn der Film mit seinem etwas unentschlossenen Mix aus Krimi und Komödie, Drama und Geschichtsfilm an Tempo und Schwung verliert. Doch die Schauspieler Gudrun Ritter, Michael Gwisdek, Meret Becker und Jürgen Vogel - mit Haaren! - umgehen gekonnt altbekannte Muster über die DDR, lassen stattdessen Nuancen im alltäglichen Leben der Menschen zu.

Er ist es gewesen: Jürgen Vogel spielt in "Boxhagener Platz" einen nicht eindeutig linientreuen Abschnittsbevollmächtigten.
(Foto: dpa)
Ungewöhnliche Wege geht derweil Dominik Graf. Als Fernsehserie konzipiert, feiert das Familiendrama "Im Angesicht des Verbrechens" seine Premiere auf der Kinoleinwand. Mehr als acht Stunden, aufgeteilt auf zwei Tage, müssen die Zuschauer allerdings aushalten, um mit Marie Bäumer, Misel Maticevic und Max Riemelt in das organisierte Verbrechen und das russisch-jüdische Milieu von Berlin abzutauchen. Das Thema Integration taucht auch hier auf: Graf will Deutschland als Schmelztiegel der Kulturen präsentieren.
Magnetisch und sinnlich
Neben dem Nachwuchs sind es drei "Altstars", die auf der Berlinale im Mittelpunkt stehen. Die Ehrenbären für Schygulla und Kohlhaase sind - neben der viel beachteten Wiederaufführung von "Metropolis" - ein Statement für den kritischen deutschen Film, und dies schließt ausdrücklich Produktionen der DEFA von Konrad Wolf oder Frank Beyer ein. Schygulla feierte vor allem als Darstellerin für Rainer Werner Fassbinder große Erfolge, 1979 erhilet sie für "Die Ehe der Maria Braun" einen Silbernen Bären. Kulturstaatsminister Bernd Neumann sprach von einer "geradezu magnetischen, sinnlichen Anziehungskraft" ihrer Frauenrollen.
Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zeichnete in der ehemaligen DDR für Erfolge wie "Solo Sunny" und "Der Aufenthalt" verantwortlich, arbeitete zuletzt vor allem mit Regisseur Andreas Dresen zusammen ("Sommer vorm Balkon", "Whisky mit Wodka"). Die Betonung dieser deutschen Filmgeschichte dürfte ganz im Sinne von Festivalchef Dieter Kosslick sein, der seit Amtsantritt 2001 den deutschen Film auf den Berliner Filmfestspielen aus der Versenkung geholt hat.
Preisregen in den letzten zehn Jahren
Der Lohn war der Goldene Bär für Fatih Akins "Gegen die Wand" im Jahr 2004 – der erste seit 1986 für einen deutschen Streifen. Hinzu kamen zwei Große Preise der Jury ("Halbe Treppe" und "Alle Anderen") und der Regie-Preis für Marc Rothemund ("Sophie Scholl – Die letzten Tage"). Dass seit 2005 vier deutschsprachige Schauspielerinnen (Julia Jentsch, Sandra Hüller, Nina Hoss, Birgit Minichmayr) den Silbernen Bären erhielten – hinzu kommt Moritz Bleibtreu für "Elementarteilchen" – spricht Bände auch über die darstellerische Qualität deutscher Produktionen.
Auf der Berlinale 2010 setzt sich dieser Aufwärtstrend ohne Frage fort. Zu entdecken sind jedoch vor allem die kleinen Dramen, die ohne Stars, aber mit guten Darstellern und ungewöhnlichen Storys von deutscher Gegenwart und Wirklichkeit erzählen. Ob dabei ein oder mehrere Bären herauskommen, spielt am Ende eine eher untergeordnete Rolle. Oder wie es Burhan Qurbani ausdrückte: "Wir haben schon gewonnen – einfach, weil wir im Wettbewerb dabei sind."
Quelle: ntv.de, mit dpa