Fruchtbare Tage Die Frau an Tolstojs Seite
07.11.2010, 10:29 UhrWer war die Frau, "die im Leben an die Seite des genialen und hochkomplizierten Grafen Tolstoj zu stellen Gott und dem Schicksal gefiel"? Die Tolstoj-Literatur neigt zu der Vorstellung, die Tolstaja sei eine hysterische Nörglerin gewesen. Doch sie lebte als "Amme des Talents ihres Mannes". Bis die Sehnsucht nach einem eigenen Leben übergroß wurde.
Lew Nikolajewitsch Tolstoj stirbt am 7. November 1910 um 6.05 Uhr. An seinem Bett kniet Sofja Andrejewna Tolstaja geborene Behrs, beinahe 50 Jahre Tolstojs Ehefrau. Auf den ersten Blick sieht dies nach einen Happy End aus, doch die Beziehung des weltberühmten Schriftstellers zu seiner Frau ist in seinen letzten Lebenstagen so zerrüttet, dass er den Tod schon vor Augen von seinem Anwesen Jasnaja Poljana und seiner Ehefrau flieht. Sie reist ihm verzweifelt nach und erreicht gerade noch sein Sterbebett.
Wer war die Frau, "die im Leben an die Seite des genialen und hochkomplizierten Grafen Lew Nikolajewitsch Tolstoj zu stellen Gott und dem Schicksal gefiel"? Dieser Frage, die Tolstaja in ihren eigenen Erinnerungen aufwarf, sind Ursula Keller und Natalja Sharandak in ihrer Tolstaja-Biografie nachgegangen. Akribisch, doch niemals langweilig, spüren sie der Frau nach, die ein ganzes Leben mit Tolstoj verbrachte. Die Tolstoj-Literatur neigt gar zu leicht der Vorstellung zu, die Tolstaja sei ein hysterischer, nörgelnder Mensch gewesen, der dem Dichter kaum Verständnis entgegenbrachte. Die Autorinnen versuchen, Tolstaja ein wenig mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Reduziert auf eine Rolle
Eine große Liebe verband die Tolstojs, doch die Anforderungen, die Tolstoj an seine Frau stellte, waren beinahe übermenschlich. 13 Kinder werden im Lauf der Ehe geboren. Jeden Versuch Sofja Andrejewnas, den Kindersegen etwas zu regulieren, versteht Tolstoj als Angriff auf die von ihm empfundene göttliche Ordnung. Immer wieder kehrt die Tolstaja ins Ehebett zurück, vom Zustand dauernder Schwangerschaft erschöpft und reduziert auf eine Rolle, die ihren Talenten kaum angemessen schien.
Sie trägt die zahlreichen Kinder nicht nur aus, auch deren Erziehung obliegt ihr, dazu die Verwaltung von Jasnaja Poljana, die Regelung der Familienfinanzen. Sie ist die erste Leserin des Werks ihres Mannes, allein die 1700 Seiten von "Krieg und Frieden" soll sie in unzähligen Nächten mindestens sieben Mal abgeschrieben haben. Als Lektorin und Verlegerin bringt sie das Werk ihres Mannes in umfassenden Ausgaben heraus, nicht zuletzt um die große Familie zu ernähren.
Doch obgleich Tolstoj einst von der Klugheit und Schönheit seiner Frau angerührt war, lebt er ein Rollenverständnis, das eine "gesunde, passive, sprachlose und willenlose Frau" voraussetzte. Dieser Rolle widersetzt sich Sofja Andrejewna mit jedem Jahr mehr, und so dürften ihre Emanzipationsbestrebungen zu den Ehestörungen mindestens ebenso beigetragen haben wie Tolstojs religiöse und psychische Verwerfungen.
Wie ein Hohelied auf die Liebe
Immer wieder trägt das Paar erbitterte Kämpfe aus, um Geld, um Selbstbestimmung, um ein eigenes Leben für die Schriftstellergattin. Wären die Protagonisten nicht jener große Schriftsteller und seine Frau, bliebe noch immer ein höchst spannendes Zeitbild voller Hoffnungen und Widersprüche. So aber ist das imposante Lebenspanorama einer beeindruckenden Frau zu lesen, dass in weiten Teilen wie ein Hohelied auf die Liebe klingt.
Quelle: ntv.de