"Geschichten können heilen" Eshkol Nevo über Trauma und Geschlechtergrenzen
01.09.2024, 15:54 Uhr Artikel anhören
"Ein Mann tritt ins Paradies" - das ist der Original-Titel von Eshkol Nevos neuem Roman "Trügerische Anziehung". Das hebräische Wort für "Paradies" kann auch einfach "Obstplantage" bedeuten. Ist dem Mann dort etwas zugestoßen oder hat er das Paradies gefunden?
(Foto: picture alliance / SchnepfPictures/Shotshop)
Eshkol Nevo ist ein produktiver Schriftsteller. In den vergangenen Jahren hat der israelische Autor etwa alle zwei Jahre ein neues Buch in Deutschland vorgestellt. Nun sind allerdings vier Jahre vergangen, bis sein neuer Roman "Trügerische Anziehung" hierzulande erschienen ist. Drei lose miteinander verbundene Geschichten, in denen es um die gefährliche Anziehung zwischen Menschen geht. Entstanden ist das Buch während der Lockdowns, doch Covid kommt nicht darin vor. Wohl aber das Gefühl von Unsicherheit, von einer unruhigen Welt - obwohl Nevo das Buch schon fertig hatte, bevor in seiner Heimat Israel ein beispielloser Krieg ausbrach. Ob aus den Ereignissen rund um den Überfall der Hamas am 7. Oktober auf Israel und dem sich anschließenden Krieg in Gaza irgendwann Bücher entstehen werden, vermag Nevo nicht zu sagen. Anders als während der Pandemie gelingt es ihm aktuell nicht, sich in die Fiktion zu flüchten. Seiner Berufung als Geschichtenerzähler geht er derzeit auf ganz andere Weise nach.
ntv.de: Bei unserem letzten Gespräch im Jahr 2020 waren wir noch mitten in der Pandemie und du hattest dein Buch "Die Wahrheit ist" in Deutschland vorgestellt. So gut es damals mit Zoom & Co ging. Jetzt, fast vier Jahre später, herrscht im Nahen Osten Krieg. Wo bist du gerade?
Eshkol Nevo: Ich bin gerade in Italien zu Lesungen für "Trügerische Anziehung". Hier war ich zufälligerweise auch am 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel überfallen hatte. Wir hatten Probleme, nach Israel zurückzukehren, mit Flügen und so weiter. Obwohl die Situation schwierig war, wollten meine Familie und ich wirklich nach Hause.
Wie war es dann nach eurer Rückkehr?
Mir wurde schnell klar, dass das ganze Land posttraumatisch ist. Nicht nur die Menschen, die persönlich von der Tragödie betroffen waren. Alle waren blass. Da wurde ich zu so einer Art therapeutischem Schriftsteller. Ich treffe mich mit verschiedenen Leuten, lese ihnen Geschichten vor. Mache Workshops mit Familien von Entführten, Bewohnern aus dem Süden Israels, oder verwundeten Soldaten. Das ist auch ein seltsamer Zufall für mich, weil ich zwar Psychologie studiert habe, mich aber damals entschieden habe, kein Psychologe zu werden, sondern Schriftsteller. Als hätte sich nach 30 Jahren ein Kreis geschlossen, als wäre ich wieder am Anfang.
Was unterscheidet diese Treffen von bisherigen Lesungen oder Workshops?
Ich lese den Leuten jetzt zwar weiterhin "nur" Geschichten vor. Aber in den letzten Monaten habe ich versucht, Geschichten herauszusuchen, die ein wenig heilsam sind. Das ist auch mit einer Menge Schmerz verbunden. Ich treffe Menschen, die verletzt sind, die ihre Kinder verloren haben. Aber es ist auch eine sehr bedeutungsvolle Zeit in meinem Leben. Wie ich gerade meinen italienischen Studenten hier gesagt habe: Wir sind Geschichtenerzähler, wir sind keine Entertainer. Wir können tatsächlich für andere Menschen von Bedeutung sein. Es gibt dieses menschliche Bedürfnis, eine Geschichte erzählt zu bekommen und ich treffe jetzt auf Menschen, die es so dringend brauchen. Um etwa eine Verbindung zu den Nachrichten herstellen zu können.
Ein Thema, das auch uns Journalisten betrifft: Wie schaffen wir es, die Nachrichten so zu übermitteln, dass unsere Leser eine Verbindung zu sich sehen?
Man hört die Fakten, aber wir Geschichtenerzähler können einen Zugang zu dem emotionalen Part des Ganzen schaffen. Die Menschen daran erinnern, dass sie Empathie haben. Die Tatsache, dass dein Land sich in einem Krieg befindet, bedeutet nicht, dass du deine Werte oder die Art und Weise, wie du über die Menschheit denkst, verloren hast. Aus diesem Gefühl habe ich zu jeder Anfrage "Ja" gesagt. Worum auch immer ich gebeten wurde. Nur einmal habe ich abgelehnt.
Was war das für eine Anfrage?
Eine Familie bat mich, eine Trauerrede zu halten. Ich kannte den jungen Mann aber nicht. Ich hielt es also für besser, wenn jemand, der ihn kannte, die Rede schreiben würde und bot an, dabei zu helfen. Aber das war das einzige Nein.
Einmal abgesehen von der aktuellen Ausnahmesituation, ist es schon ungewöhnlich, wie nahe dir deine Leser zu sein scheinen.
Ja, wenn man Israel nicht oder nur aus den Nachrichten kennt, klingt es sogar verrückt. Ich bekomme WhatsApp-Nachrichten und Mails von völlig Fremden und weiß nicht, woher sie den Kontakt haben. Die Leute bitten mich, Bücher mit Widmungen in einen öffentlich zugänglichen Stromkasten zu legen und ich mache das. Das geht schon seit dem 7. Oktober so. Wir sind ein kleines Land, eine kleine Gesellschaft und es ist sehr berührend, wie wir uns derzeit alle vernetzen.
Wie ist es, wenn du jetzt im Ausland deine Bücher als israelischer Autor vorstellst?
Als israelischer Schriftsteller werden einem viele politische Fragen gestellt, das ist man eigentlich gewohnt, das überrascht mich nicht. Das ist gewissermaßen unser Schicksal. Was denkst du über die Situation, wie fühlst du dich? Es ist schwer, die Komplexität der Situation in Israel, im Nahen Osten, Menschen nahezubringen, die sich dessen überhaupt nicht bewusst sind. Ich weiß vor Lesungen momentan nie, was passieren wird. Kommen viele Leute, kommen wenige? Wird mein Vortrag gestört? Ich bin jedenfalls bereit, mich jeder Art von Herausforderung zu stellen. Aber nachdem ich all das gesagt habe, muss ich zugeben, dass ich zum Beispiel glücklich bin, gerade wieder in Italien zu sein. Denn in einer abnormalen Gesellschaft zu leben, und das ist gerade eine abnormale Situation in Israel, ist keine gesunde Sache. Ich weiß auch nicht, wie das für meine Töchter in Zukunft weitergehen wird.
Viele Israelis verlassen gerade angesichts der angespannten Lage oder aus Ablehnung der Regierung das Land. Zieht es dich oder vielleicht deine Töchter auch ins Ausland?
Ich kann mir vorstellen, dass mindestens eine von ihnen später nicht in Israel leben wird, und ich würde das nicht kritisieren. Das ist eine legitime Wahl. Für mich ist es keine Option. Nicht, weil es zu spät ist, sondern weil ich an meiner Heimat und meiner Sprache hänge. Auf Hebräisch kann ich das Wort "Pardes" schreiben und jeder weiß, was es bedeutet, welche Rolle es im Talmud spielt.
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In drei nur lose zusammenhängenden Geschichten erforscht Eshkol Nevo in "Trügerische Anziehung" die Gefühlszustände ganz unterschiedlicher Menschen. Sicher ist nur, dass nichts sicher ist. Immer, wenn man als Leser meint, auf der richtigen Fährte zu sein, führt Nevo eine ganz neue Welt ein. Wer Bücher mag, wo alle Fäden säuberlich zusammengeführt werden, wird mit den schnellen Wechseln hadern. Wer Lust hat, weiter über die Themen Begehren, Verlust, Liebe und fluide Geschlechterrollen nachzudenken, ist genau richtig.
Das Wort spielt auch in deinem neuen Roman eine Rolle und wurde extra in der Übersetzung erläutert. Es kann einfach Zitrusplantage, Obstgarten, bedeuten, oder auf das biblische Paradies hinweisen. Auch wird erklärt, wofür das Akronym "PaRDeS" im Talmud steht.
Ja, darauf habe ich bestanden. Damit die Leser den Begriff und seine Doppeldeutigkeit verstehen. Im Talmud ist der Pardes eine Metapher für den Kontrollverlust. Oder dafür, Gott zu sehen, in seiner Präsenz zu sein. Ich habe darüber aber als säkuläre Person nachgedacht. Für mich ist es auch eine Metapher für einen mentalen Zustand, in dem du nicht mehr die komplette Kontrolle hast. Vielleicht, weil du verliebt bist, oder weil du nicht weißt, ob du für eine Person väterliche oder erotische Gefühle hast, wie in meiner zweiten Geschichte. Oder weil dir der Boden unter den Füßen weggezogen wird, weil einer deiner Liebsten einfach verschwindet.
Es gab keine große Pause zwischen dem Ende der Pandemie und den schlimmen Ereignissen in Nahost seither. Kannst du dich im Moment überhaupt in die Fiktion flüchten?
Nun, das Buch, über das wir sprechen, wurde während der Pandemie geschrieben, und ich denke, es ist ein gutes. Den ersten Teil habe ich während des Lockdowns geschrieben. Den zweiten Teil im Lockdown Nummer zwei. Und dann begann Lockdown Nummer drei. Also musste ich das Buch beenden. Ich ging damals mit meiner Frau in einer Obstplantage in der Nähe unseres Hauses spazieren. Dort trafen wir auf eine weinende Frau, die uns sagte, ihr Mann sei in den Obsthain gegangen und nicht zurückgekommen. Wir haben also mit ihr nach ihm gesucht, ohne ihn zu finden. Irgendwann mussten wir aber nach Hause zurück und wir haben nie erfahren, was eigentlich passiert ist. Und ich dachte: ok, das könnte das Ende meines Buches sein.
Damit habe ich nicht gerechnet, dass dieser Part des Romans auf einer tatsächlichen Begebenheit beruht.
Ja, und die Geschichte mit Lateinamerika ist mir vor vielen, vielen Jahren passiert. In Südamerika traf ich ein Ehepaar, später las ich in der Zeitung, dass einer von ihnen bei einem Fahrradunfall ums Leben kam. Ich hatte da die Eingebung, dass es kein Unfall war. Aber die Familie war damals nicht bereit, mit mir zu sprechen, was mir das Gefühl gab, dass ich einer Sache auf der Spur sei. Jahre später habe ich es jetzt in meinen Roman eingebaut
Was hat die Familie dazu gesagt? Haben sie dir erlaubt, in der Form darüber zu schreiben?
Nein, sie wissen es nicht einmal. Ich habe auch viel an der Geschichte verändert, der Vorfall war mehr die Inspiration. Also sind der erste und der dritte Teil von "Trügerische Anziehung" von wahren Ereignissen inspiriert. Im Grunde auch der zweite Teil - aber darüber kann ich nicht sprechen, das ist Teil unserer Familiengeschichte.
Das macht natürlich besonders neugierig - da möchte man als Leser herausbekommen, was wahr und was fiktionalisiert ist. Was schon passiert ist und noch passieren könnte. Die Partyszene am Ende des Buches, sie scheint fast vorwegzunehmen, was auf dem Nova-Festival am 7. Oktober vorgefallen ist.
Ja, danach wurde ich oft gefragt. Aber manchmal bist du ein ungewollter Prophet. Ich wollte nur über eine verrückte Party schreiben, wo Halluzinogene im Spiel sind, ein Event, bei dem alle unabhängig von ihrem Geschlecht sowohl Frauen als auch Männer sein können.
Auf der Party verschwimmen die Geschlechtergrenzen, werden fluide. Damit wird gen Ende des Buches noch mal ein neues Thema aufgemacht. Warum?
Eshkol Nevo untersucht in seinen Büchern zwischenmenschliches. (Foto: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de)
Auffällig ist, dass in dem Buch Covid keine Rolle spielt, obwohl du es während der Lockdowns geschrieben hast. Keine Tests, keine Masken, kein Impfstoff.
Nein, kein Corona, kein Covid. Aber Leser meinten, dass sie durch das Buch hinweg die Pandemie gespürt hätten. Wie Turbulenzen während eines Fluges. Turbulenzen, so heißt das Buch auch in der französischen Übersetzung. Alle Figuren erleben Turbulenzen, mit denen sie nicht gerechnet haben. Einer verliebt sich auf verrückte Weise. Der andere bringt sich in dem Krankenhaus, in dem er arbeitet, in Schwierigkeiten. Und die Frau im dritten Teil verliert ihren Mann, er verschwindet einfach, was wahrscheinlich am tragischsten ist. In gewisser Weise kommt dieses Buch von all meinen Romanen einem Thriller am nächsten. Ich wollte, dass der Leser sich fragt, wer hat recht, wer Unrecht. Wer ist gut und wer ist schlecht. Aber anders als im Thriller gibt es keine eindeutigen Antworten. Niemand wird klare Antworten bekommen. Du wirst keine Leiche finden. Du bekommst keine Antwort auf das Whodunit. Alles bleibt in der Grauzone.
Hat also die Pandemie dem Buch die etwas düsterere Note verliehen?
Für mich war es eher andersherum. Diese wirklich dramatischen Geschichten haben mich von der Pandemie abgelenkt, ich musste herausfinden, was am Ende passiert. Als alle im Lockdown waren, war ich in meinem Kopf in Südamerika. Ich hatte eine ungehörige Liebe und habe nach einem verlorenen Kerl im Obstgarten gesucht. Ich würde nicht sagen, dass ich Spaß hatte, aber da war eine Menge Energie. Außerdem habe ich die ganze Zeit mit Kopfhörern geschrieben, permanent Musik gehört.
Die Musik hat ihren Weg auch in das Buch gefunden, man findet einige der Songs, die du beschreibst, auch auf Spotify. Und wenn man sie sich anhört, kann man die Verbindung zwischen der Musik und dem Rhythmus des Textes erkennen.
Ja, die Musik hat mich wirklich emotional aktiviert, was ein Glück war, denn nichts während Covid konnte dich aktivieren. Du hast niemanden getroffen, du hast niemanden gesehen. Ich habe keine Schreibkurse gegeben, keine Lesungen. Erst mithilfe der Musik konnte ich anfangen zu schreiben.
Wie ist es jetzt? Die Pandemie ist vorbei, aber Israel befindet sich in einem furchtbaren Krieg.
Ja, die Situation ist eine völlig andere. Das Einzige, was ich seit Oktober tun konnte, war, ein Tagebuch zu schreiben. Ich habe einige Kapitel daraus veröffentlicht, viele in Italien, einige auch in Deutschland. Das war meine Art, damit umzugehen. Ich habe noch nie biografisch geschrieben. Realität in der ersten Person. Aber in den letzten Monaten gab es keinen Platz für Fiktion in meinem Leben. Ich glaube, es wird Zeit brauchen, um zu verstehen, was gerade alles passiert. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, daraus eines Tages Fiktion zu machen, ich denke darüber gar nicht nach. Erst mal schreibe ich weiter an meinem biografischen Tagebuch. Das ist okay.
Mit Eshkol Nevo sprach Samira Lazarovic
Quelle: ntv.de