Genie oder Spinner? Warum wir Querdenker brauchen
17.05.2012, 06:57 UhrIst es nur ein Hirngespinst oder doch eine revolutionäre Idee? Das ist gerade bei den ganz großen Entdeckungen nicht immer leicht zu unterscheiden. Mit völlig neuen Gedanken und vor allem mit den Menschen, die sie denken, tun wir uns schwer. Dafür gibt es wissenschaftliche Gründe, wir tun aber gut daran, den Neugierigen Raum zu lassen.

Auch Einstein wurde für seine Relativitätstheorie heftig angefeindet.
(Foto: picture alliance / dpa)
Jede wirklich neue Erkenntnis oder Erfindung ist beim ersten Denken so ungeheuerlich, dass man nicht sicher sein kann, ob sie nicht einfach verrückt ist. Gerade bei den ganz neuen Überlegungen ist der Grat zwischen Genie und Spinner oftmals beängstigend schmal. Doch manche Menschen können nicht anders, als trotzdem einer fixen Idee zu folgen, auch wenn sie dafür sozial geächtet werden. Warum das so ist, dieser Frage geht Jürgen Schaefer in seinem Buch "Genie oder Spinner – Sind wir offen für Neues?" nach.
Schaefer erinnert daran, dass große Teile unseres heutigen Weltwissens einst gedanklich komplettes Neuland waren. Alfred Wegeners Idee von den auseinanderdriftenden Kontinenten beispielsweise, Thomas Alva Edisons Vorstellung, dass ein im Vakuum glühender Kohlefaden dauerhaft Licht spenden müsste oder Albert Einsteins Erkenntnis, dass Zeit nicht immer gleich vergeht. Sie alle wurden für Spinner gehalten, im Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt, verhöhnt oder landeten gar wie der Entdecker des Kindbettfiebers, Ignaz Semmelweis, im Irrenhaus.
Der Wissenschaftsjournalist Schaefer sagt, alle lieben die Querdenker, wenn sie nur lange genug tot sind. Gehören sie hingegen zum eigenen Team oder zur eigenen Firma, machen sie uns einfach nur wahnsinnig und werden im schlechtesten Fall als Querulanten abgetan.
Sicherer Pfad ohne neue Erkenntnis
Denn Menschen, auch Wissenschaftler und Ingenieure, sind zwar neugierig, die neuen Ideen müssen sich aber im Bereich des bisher Denkbaren bewegen. Deshalb machen selbst renommierte Experten "Bestätigungsfehler". Was nicht in unser Weltbild passt, halten wir nicht nur für falsch, wir nehmen es gar nicht erst wahr.
Es ist jedoch nicht intellektuelles Unvermögen, die anderen Wahrheiten zu sehen oder allgemein anerkannte Glaubenssätze infrage zu stellen. Vielmehr verbinden uns gemeinsame Auffassungen mit anderen Menschen - sie anzuzweifeln, bringt auch den Zusammenhalt mit der Gruppe in Gefahr.
Dieser Gruppenzwang ist so groß, dass wir uns sogar dann der Mehrheitsmeinung anschließen, wenn wir die Dinge zunächst anders gesehen haben. Nicht weil wir klein beigeben, sondern weil wir uns im Irrtum wähnen und sich schließlich sogar unsere Wahrnehmung ändert. Dies belegt Schaefer mit den Ergebnissen psychologischer Experimente und Erkenntnissen der Hirnforschung.
Das Anderssein und -denken erzeugt Stress und Angst. Hier geht es gefühlt ums nackte Überleben, und eine abweichende Meinung zu vertreten, widerspricht der Natur des Menschen. Nützliche Routinen ermöglichen uns einen unkomplizierteren Alltag, sie geben uns Sicherheit. Das gilt auch für Wissenschaftler, die oft als Querdenker starten und später im wissenschaftlichen Establishment landen und neue Ideen nur schwer aushalten. Deshalb irren auch so viele Experten, während interessierte Laien oder Fachfremde durch ihre andere Sichtweise die Dinge ganz klar sehen können. Dann steht plötzlich die Sonne im Mittelpunkt und die Immobilienblase steht kurz vor dem Platzen. Ein neues Weltbild entsteht.
Gewinn für die Gruppe
Doch Querdenker bescheren der Welt nicht nur geniale Neuerfindungen. Ein Wort des Widerspruchs, ein ernsthaft formulierter Einwand bringt der gesamten Diskussion mehr Ernsthaftigkeit und Tiefe. Argumente werden genauer abgewogen, die Entscheidungen werden besser begründet. Deshalb ist es ein Gewinn, wenn kreative Gruppen möglichst heterogen zusammengesetzt sind, deshalb sollten wir dankbar sein für die Querdenker.
Hinter vielen verrückten oder genialen Ideen steckt eine Leidenschaft, die Neugier. Sie treibt uns an, gibt uns den Mut, unsere "Weltgewissheit aufzugeben", zerschmettert Klischees und schickt uns auf die Suche nach dem Glück des Begreifens. Kinder sind ganz selbstverständlich so unterwegs, sie eignen sich die Welt ganz neu an. Im Lauf unseres Lebens lässt diese Leidenschaft nach, deswegen verdankt die Menschheit bahnbrechende neue Erkenntnisse oft sehr jungen Forschern. Doch Schaefer ermuntert die Leser, neugierig zu bleiben, unseren Entdeckergeist zu behalten. Denn "Ideen sind der Rohstoff, der den menschlichen Fortschritt speist".
Am Ende zieht Schaefer ein einfaches wie überzeugendes Fazit: "Fortschritt verdanken wir der Beharrlichkeit, mit der Einzelne immer wieder gegen den Strom schwammen, etwas dachten und sagten, das noch niemand gedacht oder gesagt hatte: Etwa, dass wir mal durchs Universum fliegen werden oder man in die eine Richtung lossegeln und aus der anderen Richtung zurückkommen kann."
Quelle: ntv.de