Die Geschichte einer ungeheuerlichen Entdeckung Wenn der Großvater ein KZ-Kommandant war
24.09.2013, 13:07 Uhr
Amon Göth nach seiner Festnahme als Kriegsverbrecher.
(Foto: Wikipedia)
Jennifer Teege erfährt durch einen Zufall, dass sie die Enkeltochter von Amon Göth ist. Jenes KZ-Kommandanten, der seit dem Film "Schindlers Liste" der Inbegriff des sadistischen Nazis ist. Für Teege beginnt eine Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte, die beinahe über ihre Kraft geht.
Jennifer Teege ist Jahrgang 1970, eine gutaussehende Werbetexterin, die mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Hamburg lebt. Vor fünf Jahren zieht sie in einer Bibliothek ein Buch aus dem Regal, das ihr Leben verändert. Das Buch heißt. "Ich muss doch meinen Vater lieben, oder? - Die Lebensgeschichte von Monika Göth, Tochter des KZ-Kommandanten aus 'Schindlers Liste'". Monika Göth ist Teeges Mutter. Ihre leibliche Mutter muss man sagen, denn sie gab ihre Tochter im Alter von vier Wochen in ein katholisches Kinderheim.
Teege wird an diesem Tag auf das Heftigste mit ihrer Herkunft konfrontiert, die vertrauten Daten und teilweise auch Fotos in dem Buch bringen sie plötzlich mit Menschen in Verbindung, denen sie sich fremder kaum fühlen könnte. Sie hat einen nigerianischen Vater, lebt schon ihr ganzes Leben damit, mit ihrer dunklen Haut und den krausen Haaren immer etwas anders zu sein. Sie ist adoptiert, selbst unter den ihr vertrautesten Menschen immer ein wenig fremd. Nun ist sie eine Göth, die Enkelin des Kommandanten des Konzentrationslagers Plaszow in Krakau. 1946 wurde er in Krakau gehängt, weil er für den Tod Tausender Menschen verantwortlich war. Die Verwandtschaft zeigt sich an banalen Kleinigkeiten. Sie ist groß, so wie ihre Mutter und ihr Großvater. "Als Amon Göth nach Kriegsende gehängt werden sollte, musste der Henker das Seil zweimal kürzen – er hatte Göths Körpergröße unterschätzt."
Für Teege beginnt eine furchtbare Zeit voller Depressionen und Selbstzweifel. Was hat sie mit dem jähzornigen und sadistischen Großvater gemein? Warum hat ihr nie jemand diese Verwandtschaft offenbart? Weder die Mutter, mit der sie lange Kontakt hielt, noch die geliebte Großmutter, die sich 1983 das Leben nahm, hatten jemals davon gesprochen. Jennifer Teege fürchtet verrückt zu werden, sie kann nicht mehr aufstehen, ihre Familie nicht mehr versorgen, es zieht ihr den Boden unter den Füßen weg.
Wer bin ich?
Sie liest alles über den Holocaust, was sie finden kann, reist nach Krakau, läuft durch das Haus ihres Großvaters, von dessen Balkon aus er KZ-Häftlinge erschoss. Der Schlächter von Plaszow, jähzornig, grausam und unbeherrscht, in SS-Uniform oder mit weißen Handschuhen und Tirolerhut – ein Dämon, er verfolgt sie bis in ihre Träume. Sie besichtigt das Schindler-Museum und das ehemalige jüdische Ghetto. Ohne psychologische Hilfe kann sie all diese Informationen und Eindrücke nicht verarbeiten. Wenn sie in den Spiegel blickt, sieht sie Göths Kinn, seine Falten zwischen Nase und Mund.
Die drängendste Frage wird: "Wer bin ich? Bin ich Jennifer, oder bin ich nur noch Jennifer, die Enkelin von Amon Göth?" Teege erspart sich nichts, sie sucht die Berührung zur lange verstorbenen Großmutter, jener Frau, die Amon Göth geliebt hat, ein Kind mit ihm bekam, die bis zuletzt sein Bild über ihrem Bett hatte und nichts von seiner Schuld wissen wollte. In der Literatur über Kinder und Enkel von Nationalsozialisten wird manchmal unterschieden in diejenigen Nachkommen, die ihre Nazi-Vorfahren noch kennengelernt haben und diejenigen, die sie nicht mehr erlebt haben. Teege macht eine andere Erfahrung: "Die Autoren vergessen, dass die später Geborenen häufig noch die Menschen kannten, die den Nazi-Verbrecher liebten." Die Großmutter muss gewusst haben, welche Verbrechen Göth jeden Tag an den Juden verübte, doch Göths früheres Dienstmädchen berichtete, sie habe es nicht wissen wollen. "Sie stellte die Musik immer ganz laut, so konnte sie die Schüsse nicht hören". Großmutter Irene, der einzige Mensch, der dem Adoptivkind Jennifer Liebe und Sicherheit vermittelt hat, eine Augenzeugin unglaublicher Grausamkeiten, Zuschauerin und Profiteurin.
Jede Begegnung ist ein Familiendrama, Teege sucht nach Jahren wieder die Nähe zur leiblichen Mutter. Erfährt von deren Loyalitätskonflikten. Viele Nazi-Nachkommen sind die Bilder ihrer Väter ein Leben lang nicht mehr losgeworden. Sie tragen den Selbsthass immer weiter. Teege will das ihren Kindern ersparen. Doch den Kontakt zur Mutter kann sie nicht halten. Monika Göth, geboren 1945, lassen die Verbrechen ihres Vaters, obwohl sie ihn nie kennengelernt hat, ihr ganzes Leben lang nicht los. Und dann sind da noch die alten Freunde in Israel, die sie schon aus Studienjahren kennt, lange bevor sie die Enkelin von Amon Göth wurde. Auch ihnen will sie sich offenbaren.
Teil des Ganzen
Jennifer Teeges Buch "Amon – Mein Großvater hätte mich erschossen" ist keine leichte Lektüre. Teege erzählt schonungslos. Es ist eine unglaubliche Geschichte, und mit jeder Seite wird verständlicher, dass selbst ihr Therapeut bei der ersten Begegnung weinen musste. Die Journalistin Nikola Sellmair schrieb mit Teege an dem Buch und liefert immer dann, wenn man es kaum noch aushalten kann, beschreibende Erklärungen, Daten und Fakten.
Am Ende steht bei Teege die Erkenntnis: "Die zentrale Figur ist Amon Göth. Obwohl er schon lange tot ist, steht er über allem, zieht im Hintergrund die Fäden. Durch die Adoption bin ich dem System entflohen. Dennoch bin und bleibe ich Teil des Ganzen. " Im Jahr 2012 reist Teege noch einmal nach Plaszow, gemeinsam mit der Schulklasse des Sohnes ihrer israelischen Freundin Anath. Sie ist Jennifer, Amon Göths Enkelin, die Frau mit dem nigerianischen Vater, verheiratet, zwei Kinder. Kurz zuvor ist ihr Adoptivvater gestorben. Sie weiß nun: "Es gibt keine Erbschuld. Jeder hat das Recht auf eine eigene Biografie."
Quelle: ntv.de