Brasilien, Buchmesse und die Wunderzwillinge "Wir sind glückliche Menschen"
09.10.2013, 19:31 Uhr
Magie trifft Realität: Der brasilianische Karneval ist ein rauschendes Fest. Für viele Menschen sind die Verkleidungen und Kostüme jedoch gleichzeitig eine der wenigen Chancen, der Armut zu entfliehen.
(Foto: dpa)
Fußball, Strand und Karneval auf der einen Seite - Sozialproteste und Armut auf der anderen. Brasilien, Gastland der Frankfurter Buchmesse, ist geprägt von Widersprüchen. Diese Mischung aus Magie und Realität kennen auch die Comiczeichner Bá und Moon - und bannen sie in wundervolle Bücher.

Blick in den brasilianischen Pavillon auf der Buchmesse: Hängematten laden zum Lesen ein - in diesem Fall einen Comic über die letzten Tage von Stefan Zweig im brasilianischen Exil.
(Foto: imago stock&people)
8,5 Millionen Quadratkilometer, mehr als 192 Millionen Einwohner - Brasilien ist kaum zu übersehen. Trotzdem war der fünftgrößte Staat der Erde lange ein unscheinbarer Riese. Politische Instabilität und wirtschaftliche Probleme widersprachen dem Anspruch als "Land der Zukunft", als das es der dort lebende Exilant Stefan Zweig einst bezeichnete. Mittlerweile hat sich das geändert. Brasilien ist ein gefragter Wirtschaftspartner und hat auch politisch an Einfluss gewonnen. Wenn sich Brasilien auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse als Gastland präsentiert, wird sicher auch auf diese Erfolgsgeschichte verwiesen werden, von der die Verlage aufgrund des Bildungsbooms nicht unwesentlich profitieren.
Eitel Sonnenschein herrscht in Brasilien aber keinesfalls. Ein Teil der Bevölkerung lebt weiterhin in bitterer Armut, die wirtschaftliche Expansion kollidiert immer wieder mit dem Umweltschutz oder den Interessen der Ureinwohner. Auch der eigene Anspruch, eine "Rassendemokratie" zu sein, wird nicht erfüllt. "Wir haben einmal geglaubt, dass wir es schaffen, dass bei uns alles gerechter zugeht und wir den Rassismus überwinden können. Doch wir waren Träumer und haben versagt", sagte kürzlich der Autor Paulo Scott der dpa.
"Brasilien hat viele Probleme"
Weltweit sorgten schließlich die teils gewaltsamen Proteste am Rande des diesjährigen Confed-Cups für Aufsehen. Sie richteten sich gegen Korruption, soziale Missstände und nicht zuletzt die hohen Kosten für Fußballweltmeisterschaft 2014 und Olympische Sommerspiele 2016. Auch wenn mittlerweile weniger darüber berichtet wird - die Proteste gehen weiter und werden teils von Gewalt begleitet.

Sprechende Vögel erscheinen im Traum: In "De:Tales" spielen Bá und Moon bereits mit der Mischung von Magie und Realität.
"Ich denke, Brasilien hat viele Probleme", sagt auch Fábio Moon im Interview von n-tv.de. "Und die Politik ist eines davon", fügt er an. Moon gehört - wie sein Zwillingsbruder Gabriel Bá - zu den etwa 100 brasilianischen Autoren, die ihr Land in Frankfurt präsentieren. Sie sind die weltweit bekanntesten Comic-Künstler des Landes, haben gemeinsam für große US-Serien wie "Hellboy" gearbeitet oder die Superhelden-Persiflage "Umbrella Academy" gezeichnet.
Unbekannter sind ihre brasilianischen Comics. Genau diese bringen sie aber nach Frankfurt mit: "De:TALES", eine Sammlung früher Kurzgeschichten, ist gerade auf Deutsch bei Cross Cult erschienen, Panini bringt gleichzeitig das preisgekrönte, ursprünglich als Heftserie in den USA erschienene "Daytripper" in die Läden. Beide Bücher eint eine positive Grundstimmung, obwohl auch etliche Probleme angerissen werden. Das klingt widersprüchlich, doch Moon weiß, woher das kommt: "Eine der größten Qualitäten der Brasilianer ist ihre Fähigkeit, das Leben zu genießen. Sie leben und lieben und haben trotz aller Probleme eine intensive emotionale Alltagserfahrung. Wir sind glückliche Menschen." Dieses Brasilien wollen die selbst ernannten Wunderzwillinge in ihren Werken darstellen.

Szene aus "Daytripper": Brás wurde gerade Zeuge eines mörderischen Raubüberfalls.
(Foto: Gabriel Bá & Fabio Moon / Panini)
Dabei reisen sie sehr viel. "Es ist großartig, neue Orte zu besuchen, neue Kulturen kennenzulernen", sagt Bá und fügt an, dass das auch für ihre Reisen innerhalb Brasiliens gelte. Besonders wichtig findet er dabei, die Vorstellungen von Brasilien, auf die er weltweit trifft, zu bereichern. Genau das wollen sie mit ihren Werken erreichen, erklärt er.
Was keinesfalls heißt, dass ihnen die Probleme ihrer Heimat egal wären. Sie gehen auf ihre ganz eigene Weise damit um - auf die jüngsten Proteste reagierten sie etwa mit Comics. "Wir wollten die Öffentlichkeit darauf hinweisen, wie wichtig es für uns war, den friedlichen Charakter der Proteste zu erhalten, die eine Woche zuvor außer Kontrolle geraten waren", erklärt Moon. Und sie verwiesen auf das Recht der freien Meinungsäußerung, das ihnen als Künstler besonders wichtig ist. Bá glaubt allerdings, dass seine Generation keine sehr aktive Rolle in der Diskussion um die Probleme des Landes spielt. "Wir sind eine egoistischere Generation, in dem Sinne, dass Autoren sich mehr mit sich selbst beschäftigen." Die Werke würden eher einen einzelnen Standpunkt widerspiegeln, statt wirklich zu erfassen, was gerade vor sich geht, so Bá.
Mit Humor gegen die Zensur

Es ist ein magisches Land, das Brás mit einem Freund durchreist - doch die Realität holt ihn immer wieder ein.
(Foto: Gabriel Bá & Fabio Moon / Panini)
Bei der Generation vor ihnen war das noch anders. Die strikten Zensurvorschriften der Diktatur zwangen die Künstler, andere Wege zu finden, ihre Werke zu verbreiten. Moon sieht darin den Ursprung der großen brasilianischen Humor-Tradition, die von Comics bis zu politischen Karikaturen reiche. "Humor war ihr Weg, die damals strenge Zensur auszuhöhlen", sagt er. Seine eigene Generation sei daher mit der Lektüre humorvoller Comics aufgewachsen und habe viele ähnliche Künstler hervorgebracht, die Comicstrips oder Cartoons zeichnen. Eine negative Folge war allerdings, dass Comics - ähnlich wie in Deutschland - dadurch mit lustigen Kinderbüchern gleichgesetzt werden. Dem Werk der Zwillinge kommt deshalb in ihrer Heimat eine Art Sonderrolle zu, wie Bá erklärt. Und das ist auch einer der Gründe, weshalb sie nach wie vor in Brasilien leben und arbeiten. "Wir wollen zeigen, dass Comics etwas völlig Neues sein können."

"De:TALES" (l.) erscheint bei Cross Cult, 112 Seiten im Hardcover, 15 Euro (D) / "Daytripper" (r.) erscheint bei Panini, 260 Seiten im Hardcover, 24,99 Euro (D)
Dies gelingt den Zwillingen immer wieder sehr eindrucksvoll. Vom Ideenreichtum der beiden können sich nun auch die deutschen Leser überzeugen. Der zur Buchmesse veröffentlichte Band "De:TALES" zeigt ihre ersten Gehversuche. Die kurzen und durchweg schwarz-weiß gehaltenen Geschichten sind geprägt vom vibrierenden Leben in ihrer Heimatstadt São Paulo, von Partys und Nachtleben, Begegnungen mit Frauen und Beziehungsproblemen. Doch auch magische Elemente fließen ein - Traumerlebnisse oder ein Toter, der an seinem Geburtstag aufersteht, um mit seinen Freunden zu feiern. Die sensibel und humorvoll erzählten Geschichten lassen die Meisterschaft der Zwillinge bereits erkennen. Dabei stechen die beiden Geschichten "Saturday" und "Reflections" hervor, in denen Moon und Bá mit zeitlichen und räumlichen Sprüngen experimentieren.
Mit "Daytripper" haben sie dieses Konzept fortgesetzt und zur Meisterschaft geführt. In zehn Kapiteln werden bunt gemischt verschiedene Lebensabschnitte von Brás de Oliva Domingos geschildert - vom kleinen Jungen über den umherziehenden Jugendlichen und den hoffnungsvollen Journalisten bis zum erfolgreichen Schriftsteller. Dazwischen stehen eine Reise durch Brasilien, Konflikte mit seinem Vater - einem verehrten Autor -, eine gescheiterte Beziehung, die Geburt des ersten Kindes - und am Ende jeder Episode der Tod. Brás stirbt als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener und ist im folgenden Kapitel doch wieder lebendig, als wäre nichts gewesen.
Moon und Bá zeigen dadurch auf großartige Weise, wie zufällig das Leben sein kann, wie einzelne Momente die Zukunft bestimmen und zwischen ergriffenen Chancen und verpassten Gelegenheiten entscheiden. Dabei kann alles ganz schnell vorbei sein, durch einen Unfall, einen Raubüberfall oder einen Herzinfarkt. Magie und Realismus liegen hier ganz nah beieinander und das kommt nicht von ungefähr. "Wir möchten Gefühle und Probleme behandeln, die schnell vergessen oder übergangen werden. Durch surreale Elemente können wir diese stärker hervorheben", erklärt Moon. Er ist sich sicher, dass die Leser aufmerksamer zuhören würden, wenn man statt eines Menschen ein Tier etwas sagen lasse. "Daytripper" sollte man jedenfalls aufmerksam lesen - es ist eine äußerst lohnende Lektüre. Und sie steht in ihrer Vielgestaltigkeit für die Widersprüche Brasiliens, einem Land zwischen zauberhafter Magie und bitterer Realität.
"De:TALES" bei Amazon bestellen. Eine Leseprobe gibt es hier.
"Daytripper" bei Amazon bestellen.
Moon und Bá sind auch auf der Frankfurter Buchmesse anwesend, danach gehen sie auf Signiertour durch Deutschland. Alle Termine finden sich hier.
Quelle: ntv.de