"The Zero Hour" Robin Hood auf Venezolanisch
18.06.2012, 09:26 Uhr
Parca in seinem Element: Gewalt und Mord sind sein Beruf.
(Foto: Senator)
Während eines unbefristeten Ärztestreiks wird eine junge hochschwangere Frau angeschossen. Ihr Freund ist außer sich und fährt große Geschütze auf: Der Auftragskiller überfällt mit seiner Bande kurzerhand eine Privatklinik und zwingt die Ärzte mit Waffengewalt an den OP-Tisch. Polizei und Politik sind alarmiert - denn sie haben etwas zu verbergen.
Ein unbefristeter Ärztestreik? Klingt ziemlich weit hergeholt - zumindest hier in Deutschland. In Lateinamerika sind sie eher die Regel als die Ausnahme: Im April 2010 beteiligen sich in Bolivien rund 50.000 Ärzte an einem solchen Ausstand. Sie protestieren gegen die via Gesetz verordnete Arbeitszeitverlängerung. Im August 2011 treten in der venezolanischen Provinzhauptstadt Maracay die Ärzte in einen unbefristeten Ausstand, weil sie seit Januar kein regelmäßiges Gehalt mehr erhalten haben. Prämien wurden ebenso gestrichen wie Nachtzulagen. Die Mediziner-Streiks gehören dort zum täglichen Leben dazu. Nur Notfälle werden während der Arbeitskämpfe behandelt.
Die hochschwangere Ladydi (Amanda Key) ist solch ein Notfall, denn sie wurde angeschossen. Als Parca (Zapata 666), ihr Freund aus Kindertagen und jetziger Auftragskiller und Anführer einen brutalen Straßengang, sie auf seinem Motorrad zum nächstgelegenen Krankenhaus bringen will, hat das geschlossen: Ärztemangel wegen eines unbefristeten Streiks. Auch eine Notfallbehandlung ist nicht möglich, wie ihm der nach einer Doppelschicht völlig überarbeitete Arzt Ricardo (Erich Wildpret) erklärt, der nicht einmal streiken, sondern einfach nur noch auf einer Pritsche schlafen will.
Parca schnappt sich Ricardo kurzerhand, klingelt seine Gang zusammen und macht sich auf den Weg zu einer nahegelegenen Privatklinik. Er schießt einen Wachmann über den Haufen und verschafft sich, seiner Gang und Ladydi Zugang zu der Klinik. Er riegelt sie ab, lässt Wachen aufstellen und nimmt die dortigen Patienten als Geiseln. Während sein Trupp die Patienten um ihr Hab und Gut in Form von Bargeld, Schmuck und Handys erleichtert, stürmt Parca den Operationssaal. Mit vorgehaltener Waffe zwingt er die Ärzte, Ladydis Leben zu retten - oder sie werden ihr eigenes verlieren.
Robin Hood oder Geiselgangster?
Parcas brutaler Überraschungscoup bleibt nicht ohne Folgen. Es dauert nicht lange, bis die Polizei aufmarschiert, Sondereinsatzkommando inklusive. Auch das Reporterteam eines Fernsehsenders ist vor Ort. Als dieses live von der Klinik berichtet, kidnapped Parca mit Waffengewalt und während der TV-Übertragung Reporterin und Kameramann. Nun hat er alle Trümpfe in der Hand, wie es scheint.
Er sendet eine TV-Botschaft, ruft alle Kranken der Stadt auf, zu der Klinik zu kommen. Hier würden alle behandelt werden, verspricht er. Kostenlos, versteht sich. Schon bald kämpft die Polizei nicht mehr nur mit Parcas Gang im Krankenhaus, sondern auch mit einem Aufmarsch tausender Kranker vor der Klinik. Sie rufen nach Parca, skandieren lautstark seinen Namen. Sein Ansehen unter den Armen und Kranken der Stadt wächst noch, als er einen Geiselaustausch vorschlägt, damit die zur Klinik Gekommenen auch behandelt werden können.
Was bei den Menschen vor den Krankenhaustoren hervorragend ankommt, stößt bei seiner Gang auf Unverständnis. Sie sind schließlich Kriminelle und Mörder und keine Krankenpfleger. Die Stimmung heizt sich vor und in der Klinik auf - und schon bald eskaliert die Situation. Ein Politiker will das Hospital mit schwerem Gerät stürmen lassen. Parca und seine Männer, ja selbst die Patienten und Geiseln sind ihm völlig egal. Er hat ein anderes Ziel. Er will Ladydi und ihr Baby tot sehen - aus einem ganz bestimmten Grund.
Chavez‘ Venezuela, wie es wirklich ist?
"The Zero Hour" geht auf das Konto von Diego Velasco. Der gebürtige US-Amerikaner wuchs in Venezuela auf. Er kennt die Zustände in dem Land - und geizt deshalb bei seinem Spielfilmdebüt auch nicht mit Gesellschaftskritik. Die Bilder, die er zeigt, erinnern einen an das Los Angeles der 1980er Jahre oder die Bronx in den 1990ern: Straßengangs regieren die Stadt oder zumindest weite Teile davon. Sie nehmen sich, was sie brauchen. Ein Menschenleben zählt bei nichts mehr.
Velascos Caracas ist nicht das einladende Touristenziel, es ist der Ort des täglich neuen Kampfs ums nackte Überleben. Das mag überspitzt sein, verleiht dem Film aber Authentizität. Die wird durch den mehr als glaubhaften Hauptdarsteller Zapata 666 noch verstärkt. Ruben Zapata, so der eigentliche Name des Hiph-Hoppers, stammt aus Petare, Venezuelas größtem und gefährlichsten Slum. Er ist von Kopf bis Fuß tätowiert und im Gegensatz zu Bushido oder Sido nimmt man ihm den Gangster-Rapper ohne mit der Wimper zu zucken ab. Nachts in einer dunklen Gasse einer venezolanischen Stadt will man ihm auf keinen Fall begegnen. Im Film steht jedes Tattoo auf Parcas Körper für ein Opfer des Auftragskillers.
Der Figur Parcas wird zwar eine Art Robin-Hood-Rolle impliziert, gleichzeitig erkennt der Zuschauer aber, dass sie für ihn selbst nur Mittel zum Zweck ist. Parca hat Ladydi einst geschworen, immer auf sie aufzupassen. Ihr verdankt er seinen ersten Kuss. In einer normalen Welt hätten sie geheiratet, wären in ein hübsches Häuschen gezogen, hätten Arbeit, jede Menge Kinder und genug Geld für ein nettes gemeinsames Leben. In "The Zero Hour" ist es aber Parca, der Ladydis Leben zerstört, denn er hat auf sie geschossen. Nach und nach erfährt der Zuschauer, wie es dazu gekommen ist.
"The Zero Hour" ist ein Actionfilm, der mit seinem Anti-Hollywood-Charme, einer nah an der Realität liegenden Story und einem glaubhaften Hauptdarsteller überzeugen kann. Eine Schwäche des Films sind die vielen verschiedenen Handlungsstränge, die nicht alle zufriedenstellend zusammengeführt werden. Freunden von harten und direkten Thrillern sollte das aber egal sein.
Quelle: ntv.de, von Thomas Badtke