Willam Boyds "Fotografin" Schnappschüsse eines Lebens
31.07.2016, 09:49 UhrWie fühlt sich der Rückblick auf ein Leben an? Vielleicht wie der Blick auf ein vergilbtes Foto. Die sammelt der Autor William Boyd und webt aus ihnen die Geschichte einer Frau, die im vergangenen Jahrhundert gelebt haben könnte. Als Fotografin.
Amory Clay ist die Tochter eines Schriftstellers, eines vom Krieg gezeichneten allerdings. Ein einzelner literarischer Erfolg ermöglicht der Familie ein gutes Auskommen, bis die Psyche des Vaters endgültig zusammenbricht. An einem schönen Sommertag versucht er nicht nur sich selbst, sondern auch gleich noch seine älteste Tochter mit umzubringen. Danach hat beider Leben einen Knacks. So beginnt William Boyds "Die Fotografin".
Doch Amory ist jung und auch wenn aus dem Stipendium in Oxford nun nichts wird, hat sie ja noch die Kamera. Dieses Utensil macht aus der jungen Frau eine Fotografin. Als solche blickt sie 1977 auf ein bewegtes Leben zurück, ein wenig melancholisch durch den milden Schein ihrer Whiskys inmitten von Kartons voller Fotos und Negative.
Der in Ghana geborene schottische Autor William Boyd hat schon in früheren Romanen die Erfindung von Biografien perfektioniert, bei "Nat Tate" sogar so weit, dass er die New Yorker Kunstschickeria glauben machte, es könnte diesen verkannten Maler tatsächlich gegeben haben. Für die Geschichte von Amory Clay stammt die Inspiration aus Fotos, die Boyd auf Flohmärkten und im Internet gekauft hatte. Im Buch sind sie mit abgedruckt, im Hörbuch muss man sich auf die Beschreibungen des Autors verlassen. Das Foto eines Handstand machenden Mannes, umgeben von zwei Mädchen, wird zu einer Kindheitserinnerung von Amory an den Vater.
Individuell erlebte Weltgeschichte
Andere dieser eigentlich anonymen Bilder stammten demnach aus Amorys Kamera. Feine Londoner Herrschaften, Berliner Prostituierte, Soldaten, erst im Zweiten Weltkrieg, später in Vietnam. Er hoffe immer, dass das, was er schreibe, auf seine Leser wirke, als sei dies ein tatsächliches Leben, sagt Boyd. Literatur, die zu Realität wird. Amorys Realität deckt sich mit den wichtigsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Das dekadente Berlin der 1920er-Jahre, die Niederlage Nazideutschlands, Vietnam in den 1960ern. Amory sucht sich einen Beruf, verdient Geld, reist, raucht, trinkt, liebt einige Männer und hat mit anderen Sex. Eine lebensgierige Frau, die im Rückblick nur schwer unterscheiden kann, wo sie Glück, wo Pech im Leben hatte.
Elisabeth Günther liest die Geschichte einer emanzipierten Frau sanft und freundlich. Als Synchronsprecherin lieh sie schon Michelle Fairley als Catelyn Stark in "Game of Thrones" oder Helena Bonham Carter als Bellatrix Lestrange in den Harry Potter-Filmen ihre Stimme. Manchmal klingt Amorys Geschichte aus ihrem Mund ein wenig zu sehr nach Groschenroman, dann wieder so intensiv, dass man es kaum ertragen kann. Damit trifft Günther ziemlich genau Boyds Erzählgestus, jene Mischung aus der Entrüstung der jungen Amory und der Abgeklärtheit der alten. Wenn es diese Amory Clay tatsächlich gegeben hätte, dann hätte man sie wohl gern gekannt.
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Quelle: ntv.de