Fritz Kalkbrenner im Interview "Die Clubszene geht nicht unter"
01.11.2024, 20:08 Uhr Artikel anhören
Weiß genau, was er machen muss, wenn er im Studio sitzt: Fritz Kalkbrenner.
(Foto: Sarah Storch)
2008 setzen Fritz Kalkbrenner und sein Bruder Paul mit "Sky And Sand" der elektronischen Musik aus Berlin ein Denkmal. Nun bringt der Produzent und DJ sein mittlerweile siebtes Album heraus. Mit ntv.de spricht der 43-Jährige über "Third Place", neue Trends in der Szene und das Berliner Clubsterben.
ntv.de: Herzlichen Glückwunsch zu "Third Place"! Was ist in die Platte reingeflossen, hattest du eine bestimmte Idee, wo du mit ihr hinwolltest?
Fritz Kalkbrenner: Nee, so kann man das nicht machen. Man arbeitet, und irgendwann verfügt man über ein Sammelsurium. Dann kann man auf halber Strecke erkennen, ob es ein verbindendes Element gibt. Aber sich nur mit einem Blatt Papier hinsetzen und sagen: Das wird jetzt ein ganz konkretes Konzeptalbum, ich bin wie Rufus Wainwright und mache ein Album über Parkanlagen in Europa, wo jeder Titel eine Parkanlage repräsentiert und ich alles nur noch vertonen muss … das ist bei mir nicht so. Es geht eher aus dem Nebulösen ins Konkrete und verdichtet sich dann.
Wie entsteht bei dir ein Track?
Das ist, als ob man jemanden, der 20 Jahre lang schnitzt, fragt, wie er schnitzt. Ich setze mich hin und nehme ich die Geräte in die Hand, die ich seit 20 Jahren anfasse. Ich weiß ganz genau, was ich machen muss. Wie bei einem Kunsthandwerk gibt und braucht es keinen formelhaften Start. Es gibt das, was ich durch meine hoffentlich vorhandene Hörerfahrung in dem Moment gut und behaltenswert finde. Daran halte ich fest und baue es aus - es wird angedickt und saturiert, bis es eine eigene Tragweite hat und man zum Arrangement übergehen kann. Und wenn die Nummer sich zusätzlich noch für Gesang qualifiziert, kann man auch noch darüber nachdenken, einen Text zu schreiben und den zu singen.
Wie entscheidest du über Gesang?
Das geht ziemlich schnell, das hängt vom grundlegenden Vibe der Nummer ab. Rein theoretisch kann man als verkaufsförderndes Argument jede Nummer mit Gewalt besingen. Aber das kann ich nur schwer in Worte zu fassen, das sind Hirnprozesse, für die ich keine Begrifflichkeiten habe. Bei besonders clubbigen Sachen, wo die ganze Energie nur über die Komposition übertragen wird, muss man nicht noch kleine Klangfähnchen in Form von Gesang obendrauf machen.
Aber es ist schon eher die Reihenfolge: Erst Musik, dann der Gesang? Nicht wie bei Songrwritern, die teilweise erst eine Textzeile haben und darauf die Melodie aufbauen?
Songtexter bin ich ja. Ich weiß, was du meinst, aber in der Clubmusik ist es, glaube ich, fast immer so, dass es erst die Produktion gibt und dann der Text kommt. Das hat sich so eingebürgert.
Was bedeutet der Albumtitel "Third Place" für dich?
In der soziokulturellen Theorie ist der "dritte Ort" das, was man im besten Fall neben Schlaf und Arbeit noch braucht. Das kann alles sein - vom Dackelverein über Kneipe oder seltsame Strecksprünge im Park machen bis hin zum Weggehen. Das passiert alles ohne Wertung, solange es überhaupt getan wird. Mir scheint, dass das alles seltener wird, aus vielerlei Gründen. Sozialen Medien, die Leute arbeiten zu viel ... und das ist nicht die beste Entwicklung, es ist grundlegend schade.
Das könnte man auch auf das Clubsterben in Berlin und in anderen Städten beziehen. Hattest du das auch im Sinn?
Was ich mache, ist nachrangig, aber wenn jemand das so sehen möchte, ist er oder sie herzlich dazu eingeladen, das als solches zu identifizieren. Kongenial passt der Hut drauf. In meiner Szenerie ist das natürlich ein Thema - ob es wirklich ein Problem ist, sei mal dahingestellt. Clubs kommen und gehen, das ist so und es machen auch viele andere auf. Da spielen verschiedene Sachen rein: Etwa, dass Berlin es in dem Zusammenhang noch nicht geschafft hat, innerhalb von 30 Jahren zu der Geltungsgröße zu kommen, die die bevölkerungsreichste europäische Stadt eigentlich haben müsste. Berlin fällt hinter Paris und London immer noch ganz weit ab. Die Politik hier ist auch von alters her nicht die beste. Das, was vor der Wende in Westberlin durch diesen Insulanerstatus gekrankt hat, hat sich wie ein Krebsgeschwür auch nach Ostberlin ausgelagert. Dann passiert es, dass gewisse altgediente Theater sich um gewisse Töpfe bewerben können und Clubs nicht, denen fehlt es an Zugängen. So kommt es, dass ein Watergate voll auf den Deckel bekommt, weil sich die Miete verdoppelt. Ich bin kein Freund von staatlicher Subvention, aber gleiche Regeln für alle wären gut, zumal das ja Aushängeschilder sind und auch viel Kohle kumulieren.
Geht dir das nicht nahe, dass die Clubs, in denen du deine Anfänge hattest, fast alle geschlossen haben oder bald schließen müssen?
Die Clubszene gibt es und sie geht nicht unter. Wir können uns die Frage stellen, ob es Clubs über 20 Jahre lang geben sollte.
Spricht etwas dagegen?
Es spricht nichts dagegen, aber normalerweise gibt es einen schnellen Gang und Wandel. Von mir aus hätte das Watergate noch 20 Jahre lang weitermachen können. Wenn ihnen durch eigenes Vermieter-Gutdünken so derartig an den Hals gegangen wird, ist das ohne Frage sehr schade.
Gegen steigende Mieten könnt ihr als Künstler nichts unternehmen. Aber setzt ihr euch irgendwie aktiv ein, schließt ihr euch zusammen?
Nicht, dass mir bekannt ist. Seien wir ehrlich: Was soll ich tun?
Durch mehr Auftritte oder indem ihr eure Reichweite nutzt und Leute mobilisiert?
Um was zu tun?
Um auf die Straße zu gehen zum Beispiel oder Lösungen zu diskutieren?
Ich sehe das sehr abgeklärt. Mehr als als eine hohle Geste wäre das nicht. Ich kann mich für zwei Stunden in Kreuzberg mit einer 2000-Watt-Anlage in den Park stellen und die Leute kommen und nehmen das als Umsonstparty wahr ... Aber das ist ein ganz langwieriger Prozess und wirklich kein Problem. Es werden neue Clubs entstehen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Angebot und Nachfrage sind da. Die Alterssaturation von gewissen Bezirken ist auch nichts Unnatürliches. Dass es keinen Club mehr im Prenzlauer Berg gibt, ist aus meiner Sicht schade, weil ich das als Jugendlicher anders erlebt habe. Im Zeitstrahl der Geschichte ist das aber nur ein ganz kleiner Ausfall. Wenn da jetzt Leute leben, die dafür keinen Bedarf haben, dann findet das da halt nicht statt und das muss man akzeptieren. Vom WMF (ein beliebter Club in den 90er-Jahren, Anm.d.Red.) gab es, glaube ich, sechs Läden. Die sind alle anderthalb Jahre umgezogen und waren dann wieder weg. Das war nicht so ungewöhnlich in meiner Jugend.
Bis zur Corona-Pandemie hast du alle zwei Jahre ein neues Album herausgebracht. Das ist mittlerweile eher unüblich in der Clubmusik.
Die Argumentation, dass das Album als solches zunehmend aus der Zeit gefallen ist, kommt nicht von ungefähr. Das hat sich bei Künstlern, die keine personelle Fläche haben oder die das nicht bieten können, schon ausgebürgert. Es hängt mit den Konsumgewohnheiten des Streamings zusammen, dass ein Album zunehmend ad acta geführt wurde. Ich weiß auch nicht, wie lange sich das noch hält.
Versuchst du, noch so lange wie möglich an Alben festzuhalten?
Ich mag das Format, das liegt auch meine Entwicklung und Konditionierung. Als ich 20 war, war das wahnsinnig wichtig und eine ganz tolle Sache. Aber dieser Bestandteil der künstlerischen Arbeit, zu sagen: Genau so ist die Präsentation und bitte genau in der Reihenfolge, weil ich mir etwas dabei gedacht habe - das fällt zunehmend hintenüber. Das kann man gut oder schlecht finden, aber es ist eine Tatsache. Ich gucke, wie lange es noch sinnvoll ist und habe nichts dagegen, wenn es sich noch ein bisschen hält.
Von deinem ersten Album bis zum bislang letzten hat sich künstlerisch bei dir viel getan, du setzt mehr melodische, organische Elemente ein. Gibt es irgendwas, was diese Entwicklung vorantreibt oder war das ein natürlicher Prozess?
Ich habe mehr dazugelernt. Mein erstes Album war eher ein Backroom-Producer-Album, das man zu Hause macht und die Leute mögen. Dadurch hat man mehr Möglichkeiten und mehr Geld, das man wiederum in das nächste Album stecken kann. Dann kann man Geld für Studiomusiker ausgeben. Vom ersten bis zum vierten Album sollte alles größer, besser und opulenter werden. Während meines vierten Albums fing ich an, auf der Stelle zu treten, da habe ich ein Plateau erreicht. Die Frage war, ob ich das ewig wiederkäuen wollte. Und das war nicht der Fall. Das fünfte Album war also wieder ganz anders - reduziert und zurückgenommen. Jetzt versuche ich, diese beiden Bestrebungen mehr im Zaum zu halten. Es kommt darauf an: Ist das, was ich mache, sinnhaft oder tu ich es nur noch um des Tuns willen?
Fühlst du dich selbstsicher in deinen Entscheidungen?
Ich habe mich früher sehr schwergetan mit dem finalen Entscheidungsschritt. Es gibt immer so viele Möglichkeiten, etwas abzuschließen. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich zu dem Punkt gekommen bin: Fertig ist immer besser als perfekt. Wenn keine substanzielle Verbesserung mehr stattfindet, muss man loslassen und das Produkt auf die Menschheit abwerfen. Jetzt bin ich wahnsinnig gut im Abschluss. (lacht) Man muss eine gewisse Kaltschnäuzigkeit entwickeln, auch der eigenen Tätigkeit gegenüber.
Was gibt dir allgemein mehr kreative Erfüllung: die kontrollierte Arbeit im Studio oder das spontane, unvorhersehbare Element bei einem Live-Auftritt?
Beides hat seine Vorzüge. Überrumpelt zu werden ist in dem Zusammenhang eine schöne Sache. Aber im Studio ist dieser Anfangsimpetus sehr cool, wenn es bei einer Nummer gut läuft. Da passiert sehr viel in sehr kurzer Zeit. Nur das Ausschleifen ist eher mit Fleißarbeit verbunden. Das ist zwar unabdingbar nötig, viel passiert da aber nicht mehr. Aber ich glaube, es kommt gar nicht darauf an, ob Studio oder Show. Um es mit Goethes Worten zu beschreiben: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Wie viele Liveshows spielst du im Jahr ungefähr?
Dieses Jahr waren es gar nicht so viele, da war eher Klasse statt Masse angesagt. Aber es gab Jahre, wo ich um die 160 gespielt habe, rein rechnerisch jeden zweiten Tag. Da sieht man im Dezember aus wie eine Rosine. Jetzt sind es eher 40 bis 50.

(Foto: Sarah Storch)
Hören Sie die Musik von Fritz Kalkbrenner auf RTL+ Musik.
Lassen sich 160 Shows im Jahr ohne Drogen schaffen?
Ja. Der Raubbau findet sowieso statt, Drogen verlagern ihn nur. Man könnte zwar noch mehr Gas geben, würde dann aber im Dezember noch mehr wie eine Rosine aussehen. Show und steil gehen ist eher etwas für die, die noch ein Übermaß an Kräften haben. Bei mir ist Show mit Energie und haushalten verbunden.
Die frühere Drogensucht deines Bruders Paul war ein elementarer Teil seines Films "Berlin Calling". Wurdest du als jüngerer Bruder, der ihm möglicherweise nacheifern wollte, nicht beeinflusst?
Nee, eigentlich nicht. Ich bin, was Shows angeht, schon immer ziemlich diszipliniert gewesen. Das hängt auch damit zusammen, dass mein Durchbruch erst mit 24, 25 stattgefunden hat, ich war älter und konnte Dinge besser einordnen. Der eigene Spaß stand nicht so sehr im Vordergrund wie das Abliefern.
Bist du heutzutage wählerischer, was Live-Shows angeht?
Ja - und ich arbeite mittlerweile in anderen Gestaltungsgrößen. Als junger Bengel habe ich viele Shows in 300-Mann-Clubs gespielt. Auf die Anzahl komme ich heute mit einer Show, wenn ich vor 4000 Leuten spiele. Für die ist dann auch ein halbes Jahr gut, die wollen mich natürlich nicht jede Woche sehen. Somit schrumpft diese Zahl der Shows.
Spielst du ab und zu noch so in kleineren Clubs?
Nicht im geschäftlichen Kerngebiet. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist es schwierig. Zur Albumveröffentlichung spiele ich zum Beispiel im Metropol eine super intime Show mit nur ganz wenigen Bundle-Tickets. Das ist aber eine eigene Entscheidung und ein Sonderfall. Der Bedarf ist da. Aber wenn ich vor 300 Leuten spiele, habe ich zwar wahnsinnig viel Spaß dabei. Draußen stehen aber noch mal so viele an und sind schlecht gelaunt, weil sie nicht reinkommen. Und die will ich nicht enttäuschen.
Es gibt in letzter Zeit viele neue erfolgreiche Sparten in der Szene - Tiktok-Rave, Trance-Rap oder so Schnelle-Brille-Baller-Techno … alles immer schneller, immer härter. Wie stehst du zu diesen Strömungen?
Das ist unterschiedlich. Richtiger Techno kann gut sein, da eine große subversive Kraft von ihm ausgeht. Manche von diesen Sachen heutzutage, wo auch Nummern von anderen Künstlern auf rabiate Art und Weise verarbeitet werden, die sind einfach nur schnell und es fehlt ihnen an tiefer Kraft. Das reicht nicht aus. Ich muss auf diesen Zug nicht aufspringen, das wäre nicht wahrhaftig und die Leute würden es erkennen. Zehn BPM schneller und ballern wie Sau ... Das nimmt mir doch keiner ab.
Wie siehst du die Entwicklung der elektronischen Musik mit Blick auf technologische Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz?
Wenn ich das wüsste … Vermutlich ist es irgendwann so weit, dass es nahezu nicht mehr zu unterscheiden ist. Dann obliegt es den Menschen, zu entscheiden, was sie konsumieren möchten. Für den täglichen Gebrauch gibt es dann vielleicht die KI-generierte Musik und wenn man sich ein großes Bonbon leisten will, dann guckt man sich einen Menschen an. Es gibt KI-generierte Soulnummern, die man von einem Original nicht unterscheiden kann. Aber wie wir jetzt rausgefunden haben, macht die KI ja doch nicht alles selbst, sie kreiert es nicht so, wie wir das machen. Sie hat nur einen unfassbar gigantischen Zugriff auf das ganze Schaffen der Menschheit und kann daraus in Bruchteilen von Sekunden aus 10.000 Nummern etwas klauen und neu zusammensetzen. Man kann also mit Blick aufs Urheberrecht nicht mehr nachweisen, von wem was war. Das ist sehr schade, aber das ist der Gang der Dinge. Er wird auch sehr viele in meiner Branche arbeitslos machen. Eventuell auch nicht - das weiß man nicht.
Mit Fritz Kalkbrenner sprach Linn Penkert.
"Third Place" ist ab sofort überall erhältlich.
Quelle: ntv.de