

Norbert Blüm freut sich immer noch. Er habe "eine geheime Schadenfreude, dass die, die Frau Merkel unterschätzt haben, die Gelackmeierten sind".
"Die haben gemeint, sie könnten 'das Mädchen' übersehen und übergehen, sie sei nur eine unterhaltsame Zwischenstation", sagt der langjährige Arbeits- und Sozialminister aus der Ära Kohl im Interview mit n-tv.de.
Den Fehler, Angela Merkel zu unterschätzen, würde heute niemand mehr machen. In der Gruppe der europäischen Staats- und Regierungschefs ist sie unbestritten die Mächtigste.
1990, als Merkel in die Politik ging, hätte sich niemand diese Karriere vorstellen können.
Schon ihre Wahl zur CDU-Vorsitzenden war nur möglich, weil die CDU durch Abwahl und eine Parteispendenaffäre bis ins Mark erschüttert war: eine Ostdeutsche, eine Frau, kinderlos, geschieden - für die CDU war Merkel eine Zumutung.
Als sie am 17. Juli 1954 als Angela Kasner in Hamburg zur Welt kommt, heißt der Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende noch Konrad Adenauer. Die Bundesrepublik und die DDR sind gerade fünf Jahre alt geworden. Noch steht in Berlin keine Mauer. Und (West-) Deutschland war nur zwei Wochen zuvor Fußball-Weltmeister geworden.
Merkels Vater Horst Kasner ist evangelischer Theologe (das Bild zeigt ihn im November 2004). Wenige Wochen nach der Geburt seiner Tochter geht er mit seiner Familie in die DDR, um in Brandenburg eine Pfarrstelle anzutreten.
Es ist die Zeit der stillen Entstalinisierung: 1953 war der sowjetische Diktator Stalin gestorben, was ein unmittelbares Ende des "Kirchenkampfes" in der DDR zur Folge hatte.
Doch die Rolle der Kirchen in der DDR bleibt schwierig: Die Kirche insgesamt wie auch einzelne ihrer Vertreter stehen im real existierenden Sozialismus stets im Spannungsfeld von Anpassung und Unabhängigkeit.
Diese Spannung dürfte auch Merkels Kindheit und Jugend gekennzeichnet haben. "Es gab viele Kontakte, Besuche aus dem Westen, die Bücher und so weiter", sagte sie über ihre Kindheit im Pfarrhaushalt in Templin. (Foto von 1973.)
Merkel geht nicht zur DDR-typischen "Jugendweihe", ist jedoch - wie Millionen andere - Mitglied der FDJ. Angeblich war sie dort für "Agitation und Propaganda" zuständig. Sie selbst streitet das ab. (Das Bild zeigt sie, in der zweiten Reihe in der Mitte, 1971 mit Mitschülern in der zehnten Klasse der POS.)
Sie könne sich "nicht erinnern, in irgendeiner Weise agitiert zu haben", sagte sie in einem 2005 erschienenen Interviewbuch. "Ich war Kulturbeauftragte."
Wir wissen nicht, ob Joachim Gauck dieses Buch gelesen hat. Jedenfalls glaubte er Merkel offenbar nicht. Bei einer Feier zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2010 (zu einem Zeitpunkt also, als noch Horst Köhler Bundespräsident war) war er so liebenswürdig, ihre Erinnerung zu korrigieren - ...
... und zwar ausgerechnet, nachdem sie eine Laudatio auf ihn gehalten hatte. Wörtlich sagte Gauck, man habe in der DDR "nicht unbedingt Sekretärin für Agitation und Propaganda werden" müssen. Merkels zurückhaltende Reaktion auf den Vorschlag, Gauck solle Bundespräsident werden, mag hier ihre tiefere Wurzel haben.
1973 macht Merkel mit einem Notendurchschnitt von 1,0 das Abitur. Im selben Jahr beginnt sie an der Universität Leipzig mit dem Studium der Physik. Für ihre Diplomarbeit im Jahr 1978 erhält sie ebenfalls ein "sehr gut".
Während des Studiums heiratet sie ihren ersten Mann, Ulrich Merkel. Mit ihm geht sie 1978 nach Berlin, wo sie eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften antritt. Bereits 1981 trennt sich das Paar. 1984 lernt Angela Merkel ihren späteren Mann Joachim Sauer (im Bild) kennen. Ihn heiratet sie jedoch erst 1998, nachdem sie CDU-Generalsekretärin geworden war.
Politisch aktiv wird Merkel erst nach dem Fall der Mauer. Sie schließt sich dem Demokratischen Aufbruch an, einer kirchlich dominierten Partei, die später der CDU-geführten "Allianz für Deutschland", noch später der CDU beitritt.
Merkel wird Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruch, dann stellvertretende Regierungssprecherin des letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière. Der ist es auch, der Merkel dem Kanzler als Ministerin empfiehlt.
So wird Merkel im ersten gesamtdeutschen Kabinett Ministerin für Frauen und Jugend. Das kommt auch für sie überraschend:
"Mit dem Ressort selbst hatte ich mich zuvor nicht sonderlich beschäftigt - das Thema Frauen und Jugend hatte in der Wende-Zeit nicht im Zentrum meines Interesses gelegen."
Sie gilt als Kohls "Mädchen", ...
... wird dann von 1994 bis 1998 Umweltministerin ...
... und ist in dieser Funktion am Erfolg der Klimakonferenz in Berlin beteiligt.
Nach der Abwahl der CDU 1998 macht der neue Parteichef Wolfgang Schäuble Merkel zur Generalsekretärin. Für viele ist auch dies eine überraschende Wahl, doch Merkel kann ihre Kritiker bald überzeugen.
Als Helmut Kohl in der Spendenaffäre zur Belastung für die CDU wird, ...
... schreibt Merkel am 22. Dezember 1999 ihren legendären Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", in dem sie gründlich mit dem System Kohl aufräumt.
Als Generalsekretärin ist Merkel eigentlich zur Loyalität gegen dem Ehrenvorsitzenden Kohl verpflichtet. Doch sie informiert nicht einmal den aktuellen Vorsitzenden Schäuble.
Sie schreibt, die CDU müsse "laufen lernen", auch ohne Kohl. "Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen." In der Tat ist ihr Text eine herbe Verletzung für Kohl, die er ihr lange nicht verzeiht.
Kurz darauf sieht sich Schäuble durch Vorwürfe in der CDU-Spendenaffäre, vor allem aber durch Kohls Verhalten zum Rücktritt gezwungen.
Merkel wird die neue CDU-Vorsitzende. Warum? Weil niemand sonst da ist. Alle anderen denkbaren Kandidaten sind zu alt oder - wie der Hesse Roland Koch - in Affären verstrickt.
Als CDU-Chefin verordnet Merkel der Union ein neoliberales Programm.
Bei der Bundestagswahl 2002 verzichtet sie nach langem Hin und Her beim legendären Wolfratshauser Frühstück zugunsten von CSU-Chef Edmund Stoiber auf die Kanzlerkandidatur.
Doch Stoiber scheitert, wenn auch nur knapp.
Im neuen Bundestag beansprucht Merkel den Fraktionsvorsitz für sich. Friedrich Merz, der den Posten seit 1998 innehatte, muss abtreten.
Ihr Sieg gegen Merz festigt Merkels Ruf als "schwarze Witwe", als "männermordende Politkarrieristin". Dabei ist dies einer der wenigen offenen Machtkämpfe in Merkels Karriere.
Die meisten anderen Männer stellen sich selbst ein Bein oder scheiden aus der Politik aus, weil der Weg nach ganz oben nun einmal versperrt ist.
Bei den vorgezogenen Neuwahlen 2005 führt kein Weg mehr an Merkel vorbei. Merz ist weg, Stoiber hat ein Verlierer-Image - Merkel wird Kanzlerkandidatin.
Das Wahlergebnis ist eine herbe Enttäuschung. Zwar haben SPD und Grüne keine Mehrheit mehr. Doch für Union und FDP reicht es ebenfalls nicht.
Nur mit der unfreiwilligen Hilfe von Bundeskanzler Gerhard Schröder kann Merkel sich die Regierungsübernahme sichern.
In der "Elefantenrunde" am Wahlabend attackiert Schröder seine Konkurrentin derart übertrieben, dass der CDU gar keine Wahl blieb, als die Reihen zu schließen.
"In der CDU-Zentrale in Berlin sollen sich mehrere Politiker, darunter (die Ministerpräsidenten) Wulff, Koch und Müller, wegen des enttäuschenden Wahlergebnisses zusammengesetzt haben, um sie abzuräumen", sagte Nikolaus Brender, der die "Elefantenrunde" damals moderierte, später in einem Interview mit n-tv.de.
"Nach Schröders Attacke war das natürlich nicht mehr möglich. Deshalb hat Schröder Merkel wohl ins Kanzleramt verholfen."
Merkel geht in eine Koalition mit der SPD, das neoliberale Programm wird schnell vergessen. Seit 2005 wird Merkel daher regelmäßig vorgeworfen, die CDU "sozialdemokratisiert" zu haben.
Wahr ist, dass sie ihre Partei in wenigen Jahren so radikal modernisierte, dass einige selbsterklärte Konservative das Tempo nicht mithalten konnten.
Unter Merkel wird die Wehrpflicht abgeschafft, ...
... in einer spektakulären Kehrtwende nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima der Atomausstieg verkündet, ...
... und der Mindestlohn beschlossen. - Nur drei Beispiele aus einer langen Liste "linker" Themen, die Merkel kurzerhand übernommen hat. Ernsthaften Widerstand erfährt Merkel für solche Kurswechsel in der CDU nicht.
In der Großen Koalition erfindet Merkel sich neu. Sie wird zur moderierenden Kanzlerin, die über dem Streit der Parteien steht. Dieses Image verfestigt sich vor allem in der Finanzkrise seit 2008.
Bei der Bundestagswahl 2009 verliert die Union zwar erneut, kann jedoch dank der Stärke der FDP endlich die schwarz-gelbe "Wunschkoalition" bilden.
Dieses Bündnis allerdings wird zur Chaos-Koalition der "Wildsäue" und "Gurkentruppen". Vor allem die FDP findet nach elf Jahren Opposition nicht zurück in den Regierungsmodus.
In der Finanzkrise setzt Merkel auf eine Politik der ruhigen Hand, die sie als Oppositionsführerin bei ihrem Vorgänger so scharf kritisiert hatte.
"Bevor ich einen schicken Schritt ins Abenteuer mache, müssen wir immer überlegen, kann ich das wirklich tun?", sagt Merkel beispielsweise im Oktober 2011. "Deshalb gelte ich manchmal auch als ein bisschen zögernd und langsam, ja."
Der Soziologe Ulrich Beck nennt dieses Zögern eine "Zähmungstaktik", die Kanzlerin nennt er "Merkiavelli". Den Sparkurs, den Merkel den Krisenstaaten mit dieser Taktik aufzwingt, kritisiert er als "knallharten Neoliberalismus".
Das Problem: Der Sparkurs führt die Krisenländer nur noch tiefer in die Rezession. Und so hat Merkels Agieren in der Euro-Krise sie im Ausland zu einer höchst umstrittenen Figur gemacht.
An ihrer Unbeliebtheit im europäischen Ausland ist Merkel nicht ganz unschuldig. Sie selbst verbreitet das Märchen, dass Griechen, Spanier und Portugiesen früher als Deutsche in Rente gehen und mehr Urlaub haben.
Helmut Kohl wird 2011 mit den Worten zitiert: "Die macht mir mein Europa kaputt". Kohl lässt zwar später dementieren, dies gesagt zu haben.
Doch dann gibt er der Zeitschrift "Internationale Politik" ein Interview, in dem er die Bundesregierung hart angeht. Ihr fehle ein außenpolitischer "Kompass". Für Europa und den Euro fordert Kohl ein "beherztes Paket klug gewogener und unideologischer Maßnahmen".
Merkel scheint die Kritik anzunehmen. Inhaltlich verändert sie ihre Spar- und Reform-Forderungen zwar nicht, doch ihr Ton wird freundlicher. Regelmäßig lobt Merkel nun die "großen Anstrengungen", die Italien unternommen habe, und sie erklärt, ihr blute das Herz angesichts des Schicksals der Griechen.
Politisch profitiert Merkel von den Agenda-Reformen der rot-grünen Bundesregierung - so sehr, dass im Wahlkampf 2013 kaum jemand über politische Themen spricht.
Viel stärker steht im Mittelpunkt, dass Merkel zur Ikone geworden ist.
Längst hat Merkel gelernt, ...
... sich selbst in Szene zu setzen.
In Merkel hätten die Deutschen den Kanzler gefunden, den sie immer haben wollten, schrieb der britische "Independent", ...
... und vermutlich stimmt das auch.
Ihre häufig unfreiwillig komische Mimik, ...
... die Fotografen immer wieder gern festhalten, ...
... gilt als authentisch.
Homestorys gibt es zwar weder aus Hohenwalde in der Uckermark, wo ihr Wochenendhaus steht, ...
... noch aus ihrer Privatwohnung in Berlin.
Aber wohl dosiert inszeniert Merkel sich als uneitle Frau von nebenan, ohne Details aus ihrem Privatleben preiszugeben.
"Wenn ich da im Kochtopf rühre, sage ich ja nicht, die Kanzlerin rührt jetzt im Kochtopf" - solche Sätze, die Merkel trocken hinwirft, begeistern das Publikum.
Die Kunst der öffentlichen Merkel ist, dass sie in alle Richtungen anschlussfähig ist. Für die Konservativen ist sie ein bisschen konservativ, ...
... für die Liberalen ist sie ein bisschen liberal. Sie ist eine Projektionsfläche: Jeder kann in ihr sehen, was er sehen möchte.
Bei den Wahlen im September 2013 zeigt Merkel, dass sie Wahlen gewinnen kann: 41,5 Prozent - ein so gutes Ergebnis hatte die Union zuletzt 1994.
In den Koalitionsverhandlungen zeigt sich, wie flexibel die Merkel-CDU geworden ist: Die Union sondiert ernsthaft mit den Grünen.
Am Ende kommt allerdings eine Wiederauflage der Großen Koalition heraus, die bislang vergleichsweise lautlos funktioniert.
Ihr Spitzname "Mutti" drückt aus, welche Rolle die Deutschen Merkel zugeschoben haben: ...
Merkel, die den europäischen Krisenländern qualvolle Reformen aufzwingt, ...
... wird in Deutschland gewählt, weil sie - wie einst Helmut Kohl - für ein konsequentes "Weiter so" steht.
Merkel betrachtet Politik wie ein Labor. Sie hat ein Ziel vor Augen; wichtiger aber ist ihr, dass ihr die Versuchsanordnung nicht um die Ohren fliegt. Erscheint ein Ziel unrealistisch, wird es aufgegeben.
Entsprechend lange dauert es, bis sie öffentlich signalisiert, dass sie die NSA-Affäre ernst nimmt. Schwierige Entscheidungen sind ihre Sache nicht.
Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat mal eine Metapher benutzt, die Merkels politischen Stil schön illustriert: "Ich würde mich jederzeit in ein Flugzeug mit ihr als Pilotin setzen, da fühle ich mich sicher, denn sie hat mechanisch alles im Griff", sagte er. Und schränkte dann ein: ...
... "Aber man weiß nie, wo man landet." Das mag daran liegen, dass für Merkel der Weg wichtiger ist als das Ziel.
Auf einer abstrakten Ebene hat Merkel sich häufig zum Christentum als Leitlinie ihrer Politik bekannt.
Wenn es konkreter wird, spricht Merkel lieber über die Wertschöpfung als über die Schöpfung. "90 Prozent des weltweiten Wachstums findet außerhalb Europas statt", sagt sie.
"Wenn wir es als Europäer nicht schaffen, unsere Waren woandershin zu verkaufen, sondern nur unter uns selbst verkaufen, werden wir den Wohlstand nicht halten können. Das ist das, was mich leitet."
Das Thema des globalen Wettbewerbs variiert Merkel häufig. Konsequenzen für ihre Politik in Deutschland haben diese Überlegungen kaum:
Die in ihrer ersten Großen Koalition (vom damaligen Arbeitsminister Franz Müntefering) durchgesetzte Rente mit 67 haben Union und SPD jetzt wieder aufgeweicht.
In Berlin heißt es oft, Merkel werde in zwei oder drei Jahren Platz machen für einen Nachfolger.
Sie wolle mit ihrem Mann auf Reisen gehen und ein bisschen Privatleben nachholen. Ein freiwilliger Abgang auf dem Höhepunkt ihrer Macht? In der Riege der deutsche Kanzler wäre sie die erste, der das gelingt. Zuzutrauen ist es ihr.
Zuvor jedoch hat Norbert Blüm einen Wunsch an die Kanzlerin: Mehr Visionen. "Nimm die Fahne Europas in die Hand! Und geh mit dieser Fahne unter oder siege! Dann hast du das große Verdienst, sachliche Politik und ideale Ziele zu verknüpfen." Es wäre wieder eine neue Merkel - eine, die wir bisher nicht gesehen haben.