
Eine der zutreffendsten Beschreibungen von Angela Merkel stammt von Norbert Blüm, der von 1991 bis 1998 mit ihr am Kabinettstisch saß.
"Was mir bei der Merkel gefällt, ist eine Sprache, die nicht so politisch abgelutscht ist wie meine. Sie bringt in diese perfekte Politwelt gelegentlich ein Stück von natürlicher Unbeholfenheit ein", sagte der CDU-Politiker Blüm Anfang April 2000 dem "Spiegel".
Zu diesem Zeitpunkt war die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl, der Merkel und Blüm angehört hatten, längst abgewählt. Merkel befand sich im innerparteilichen Wahlkampf.
Und sie war erfolgreich: Am 10. April 2000 wurde sie von einem Parteitag zur Vorsitzenden der CDU gewählt.
Als unverheiratete Frau, Ostdeutsche und Protestantin war Merkel die denkbar unwahrscheinlichste Wahl für das Amt der CDU-Chefin.
Merkel sei "wohltuend wenig routiniert", befand Blüm in jenem Interview im Jahr 2000. Zu dieser Zeit war dies eher eine Minderheitenmeinung: Merkel galt als linkisch, ...
... das alte Attribut "Kohls Mädchen" haftete noch immer wie Kaugummi an ihr.
Dabei hatte Merkel gerade in ihrem Umgang mit Helmut Kohl gezeigt, was in ihr steckt. Als der langjährige CDU-Vorsitzende in der Spendenaffäre zur Belastung für seine Partei wurde, ...
... schrieb sie (am 22. Dezember 1999) einen Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", in dem sie gründlich mit dem System Kohl aufräumte.
Merkel war damals Generalsekretärin der CDU und damit eigentlich zur Loyalität gegen dem Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl verpflichtet.
Doch sie schrieb, die CDU müsse "laufen lernen", auch ohne Kohl. "Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen", schrieb Merkel. Ihr Text war eine herbe Verletzung für Kohl, die er ihr lange nicht verzieh.
Wie gesagt, ein paar Monate später war sie CDU-Chefin. Dennoch dauerte es noch ein paar Jahre, bis Merkel ihre Partei wirklich im Griff hatte.
2002 musste sie dem damaligen CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur überlassen.
Drei Jahre später war Merkel die Kanzlerkandidatin der Union.
Jetzt stand sie im Mittelpunkt.
Das Wahlergebnis war eine Enttäuschung. Zwar hatten SPD und Grüne keine Mehrheit mehr. Doch für Union und FDP reichte es ebenfalls nicht.
Nur mit der unfreiwilligen Hilfe von Bundeskanzler Gerhard Schröder konnte sie sich die Regierungsübernahme sichern.
In der "Elefantenrunde" am Wahlabend attackierte Schröder seine Konkurrentin derart übertrieben, dass der CDU gar keine Wahl blieb, als die Reihen zu schließen.
"In der CDU-Zentrale in Berlin sollen sich mehrere Politiker, darunter (die Ministerpräsidenten) Wulff, Koch und Müller, wegen des enttäuschenden Wahlergebnisses zusammengesetzt haben, um sie abzuräumen", sagte Nikolaus Brender, der die "Elefantenrunde" damals moderierte, in einem Interview mit n-tv.de.
"Nach Schröders Attacke war das natürlich nicht mehr möglich. Deshalb hat Schröder Merkel wohl ins Kanzleramt verholfen."
Von Merkel hatte Brender übrigens keinen guten Eindruck, der sich bis heute nicht gebessert hat: In großen Krisen komme von ihre keine Antwort. "Abwarten aus Entscheidungsschwäche oder aus Angst, das ist keine Politik", sagte Brender.
Die Wahl zur Kanzlerin war nicht das erste Mal, dass Merkels Karriere von Zufällen bestimmt zu sein schien. Zufällig war die gebürtige Hamburgerin als Kind in der DDR gelandet, weil ihr Vater (hier bei Merkels erster Wahl zur Kanzlerin), ein Pfarrer, dorthin zog.
Ansonsten gilt für Merkels Leben in der DDR, was für die meisten ostdeutschen Biografien jener Zeit gilt: Mit den schlichten Maßstäben "oppositionell" und "regimetreu" ist es nicht zu erfassen.
Zur Jugendweihe ging Angela Merkel nicht, Mitglied der FDJ war sie schon. Sie verhielt sich angepasst, aber nicht konform.
Erst spät, im Dezember 1989, entschied sich Merkel bei der Suche nach einer politischen Heimat für den "Demokratischen Aufbruch" (der später der CDU beitrat). Sie wurde Pressesprecherin der neuen Partei - durch einen Zufall.
Von da ging es stetig aufwärts: Merkel wurde die stellvertretende Regierungssprecherin von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, ...
... dann überraschenderweise Ministerin für Frauen und Jugend im ersten gesamtdeutschen Bundeskabinett.
Überraschend kam das auch für Merkel: "Mit dem Ressort selbst hatte ich mich zuvor nicht sonderlich beschäftigt - das Thema Frauen und Jugend hatte in der Wende-Zeit nicht im Zentrum meines Interesses gelegen."
Nach der Bundestagswahl 1994 machte Kohl Merkel zur Umweltministerin. Einerseits ging es darum, den (aus Sicht der Industrie zu überzeugten) Ökologen Klaus Töpfer abzusetzen, ...
... andererseits war es eine Beförderung, die Merkel sich erarbeitet hatte. Und die sie wohl auch verdiente: Der Erfolg beim Klimagipfel 1997 war auch ihrer Verhandlungsführung zu verdanken.
Nach der Wahlniederlage der CDU 1998 machte der neue Parteichef Wolfgang Schäuble Merkel zu seiner Generalsekretärin. Dann half wieder der Zufall.
Die Spendenaffäre ließ das Denkmal Kohl wanken und Schäuble stürzen. Die CDU brauchte nun einen Vorsitzenden, der glaubhaft einen Neuanfang verkörpern würde. Oder eine Vorsitzende.
Dieser Karrieresprung war in Wirklichkeit natürlich kein Zufall, ebenso wenig wie die anderen Schritte zuvor.
"Am Ende ist es immer das Fällige, was uns zufällt", schreibt Max Frisch, und das trifft auf Merkel zweifellos zu.
Denn ohne die Lücke, die sich in der Spendenaffäre auftat, wäre sie zwar nicht CDU-Chefin geworden. Dass es auf sie hinauslief, war jedoch allein ihr Verdienst: Sie hatte im entscheidenden Moment den Mut, sich offen gegen Kohl zu stellen.
Ihr unwahrscheinlicher Aufstieg war demnach ein fälliger Zufall.
Schwieriger zu erklären sind ihre politischen Motive. Am besten werden sie wahrscheinlich mit dem Diktum "Physikerin der Macht" beschrieben, das ihr seit Jahren anhaftet.
Merkel betrachtet Politik wie ein Labor. Sie hat ein Ziel vor Augen; wichtiger aber ist ihr, dass ihr die Versuchsanordnung nicht um die Ohren fliegt. Erscheint ein Ziel unrealistisch, wird es aufgegeben.
So gesehen ist Merkel die Kanzlerin des Machbaren. Ihre Visionen, sofern sie welche hat, behält sie lieber für sich.
Auf einer abstrakten Ebene hat Merkel sich häufig zum Christentum als Leitlinie ihrer Politik bekannt.
Wenn es konkreter wird, spricht Merkel lieber über die Wertschöpfung als über die Schöpfung. "90 Prozent des weltweiten Wachstums findet außerhalb Europas statt", sagt sie.
"Wenn wir es als Europäer nicht schaffen, unsere Waren woandershin zu verkaufen, sondern nur unter uns selbst verkaufen, werden wir den Wohlstand nicht halten können. Das ist das, was mich leitet."
Das Thema des globalen Wettbewerbs variiert Merkel häufig. Konsequenzen für ihre Politik in Deutschland hatten diese Überlegungen bislang kaum. Die in ihrer ersten Großen Koalition (vom damaligen Arbeitsminister Franz Müntefering) durchgesetzte Rente mit 67 wollen Union und SPD jetzt wieder aufweichen.
Die Rente mit 63 passt nicht nur gut zur Mütterrente der Union. Sie ist auch einer der vielen Köder, die Merkel brauchte, um die zaudernde SPD in eine gemeinsame Regierung zu locken.
Denn die SPD hat höchst ungute Erinnerungen an ihre erste Koalition mit Merkel. "Es darf nicht so sein, dass die CDU winkend auf dem Sonnendeck steht und die SPD im Maschinenraum die Arbeit macht und schwitzt", hatte Hubertus Heil damals gesagt. Doch genau so kam es.
Natürlich hatte die SPD mit innerparteilichen Querelen kräftig dazu beigetragen, die Bundestagswahl 2009 zu verlieren. In Erinnerung blieb den Sozialdemokraten aber, dass sie von der "schwarzen Witwe Merkel" erdrückt worden waren.
Zwischen 2005 und 2009 forderte die SPD beständig ein "Machtwort" von Merkel, um diesen oder jenen Koalitionsstreit zu beenden.
Was die Sozialdemokraten nicht verstanden hatten: Die Zeit der Machtworte war vorbei. Merkel führt nicht, sie moderiert. Und ist dabei höchst populär.
"Frau Merkel hat es verstanden, dass Menschen zu ihr nicht nur eine intellektuelle, sondern offenbar auch eine emotionale Beziehung empfinden", sagte der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel n-tv.de.
"Nicht so wie zum Charisma eines Willy Brandts, sondern wie zu einer Mutter. Das hat ihr geholfen."
Ihr Spitzname "Mutti" drückt aus, welche Rolle die Deutschen Merkel zugeschoben haben: ...
Merkel, die den europäischen Krisenländern qualvolle Reformen aufzwingt, ...
... wird in Deutschland gewählt, weil sie - wie einst Helmut Kohl - für ein konsequentes "Weiter so" steht.
Merkel gilt heute als mächtigste Frau der Welt.
Ihre Partei hat sie so fest im Griff wie kaum ein Kanzler vor ihr.
Doch sie nutzt ihre Macht nicht. Niemand rechnet damit, dass Merkel den Deutschen eine "Agenda 2020" zumuten wird. Wenn sie Reformen plant, dann auf europäischer Ebene, weit weg vom Alltag ihrer Wähler.
Das ist erstaunlich für eine Politikerin, die ihre eigene Partei so stark verändert hat. Denn Merkel hat ja nicht nur die Spendenaffäre überwunden, ...
... sondern die CDU in die Gegenwart geschoben.
Die alte CDU glaubte, dass Kindergärten Teufelszeug und Atomkraftwerke nachhaltig sind. Diese Zähne hat Merkel ihren Parteifreunden gezogen.
Auf CDU-Parteitagen wird mittlerweile offen über die Gleichberechtigung der Homo-Ehe diskutiert, im CDU-Vorstand sitzen Menschen, die nicht als Deutsche zur Welt gekommen sind.
Vielleicht hat Merkel ihren Reformeifer aufgebraucht. Vielleicht ist es die Erfahrung von 2005, die sie zögern lässt. Mit einem allzu ambitionierten Reformprogramm ist die Union nicht mehrheitsfähig, das war die Erkenntnis aus der Wahl, die Merkel zum ersten Mal in eine Große Koalition zwang.
Als Kanzlerin des Machbaren scheut sie Konflikte, wenn sie nicht zu gewinnen sind. Dies war zuletzt in der NSA-Affäre zu beobachten.
Als herauskam, dass der US-Geheimdienst jahrelang ihr Handy überwachte, ließ sie ihren Sprecher Empörung verbreiten. Der Eindruck war: Merkel ärgert sich mehr darüber, dass die Überwachung ihres Telefons publik wurde, als über die Spitzelei selbst.
Ihre "natürliche Unbeholfenheit" ist längst Mittel zum Zweck geworden. Bei keinem öffentlichen Auftritt verzichtet sie auf flapsige Bemerkungen, die das Publikum mit dankbarem Lachen quittiert.
In Berlin heißt es oft, Merkel werde in zwei oder drei Jahren Platz machen für einen Nachfolger.
Sie wolle mit ihrem Mann auf Reisen gehen und ein bisschen Privatleben nachholen.
Vielleicht kommt es aber auch ganz anders. Vielleicht eifert sie auch in diesem Punkt Helmut Kohl nach. Der war 16 Jahre Kanzler.