Immer mehr häusliche Gewalt "Absurd, dass Opfer ihren Schutz bezahlen müssen"
25.06.2023, 11:17 Uhr Artikel anhören
In fast jedem Bundesland sind die Zahlen häuslicher Gewalt zuletzt gestiegen, wie neue Daten aus den Ländern zeigen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Fälle häuslicher Gewalt steigen gegenüber dem Pandemiejahr um fast zehn Prozent, die meisten Betroffenen sind Frauen. Elisabeth Oberthür von der Frauenhauskoordinierung wundert der erschreckende Anstieg nicht. Im Gespräch mit ntv.de fordert sie Investitionen in frühzeitige Prävention und in das Schutzsystem für Gewaltopfer. Denn dies sei in Deutschland ein riesiger Flickenteppich - mit verheerenden Folgen für die Betroffenen.
ntv.de: In den Pandemiejahren sind die Zahlen häuslicher Gewalt gestiegen. Die Belastungen und Beschränkungen sind längst vorbei - trotzdem steigen die Fälle weiter deutlich an, wie neue Daten der Innenministerien und Landeskriminalämter zeigen. Woran liegt das?
Elisabeth Oberthür: Es ist für uns wenig überraschend, dass die Zahlen nach Pandemie und Lockdown erst verzögert ansteigen. Zum einen aus praktischen Gründen: In einer Zeit, in der man mit dem Partner auf engem Raum isoliert war, war es schlichtweg schwieriger, die Koffer zu packen und die Wohnung zu verlassen oder sich unbemerkt Hilfe zu suchen. Solch einen verzögerten Anstieg von Anzeigen häuslicher Gewalt nach Phasen räumlicher Enge erleben wir zum Beispiel auch nach der Weihnachtszeit oder Silvester. Zum anderen ist es selten so, dass es nur einen Gewaltvorfall braucht, damit sich die Betroffenen an Polizei oder Beratungsstellen wenden. Im Gegenteil: Bevor das passiert, vergehen oft Monate oder sogar Jahre, in denen die Betroffenen Gewalt erleben.
Das heißt, die Aggressionen, die in der Pandemie entstanden sind, halten an?
Es ist weniger so, dass in der Pandemie Gewalt oder Aggressionspotential neu entstanden sind. Vielmehr wirkten verschiedene Stressfaktoren in dieser Zeit - etwa die räumliche Enge oder existenzielle Sorgen - wie ein Brandbeschleuniger: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein schon bestehender Konflikt eskaliert, steigt. Bei häuslicher Gewalt geht es in den seltensten Fällen dann nur um einen Gewaltausbruch, sondern es handelt sich in der Regel um ein Gewaltmuster, das länger und auf vielen Ebenen ausgeübt wird. Das macht sie so wirkmächtig.
Welche Form der Gewalt erleben die Frauen, die sich bei Beratungsstellen oder in den Frauenhäusern melden?
Zum einen natürlich die körperliche Gewalt. Frauen werden von ihrem Partner geschlagen oder verprügelt, also körperlich misshandelt. Auch sexualisierte Gewalt bis hin zur Vergewaltigung ist Thema. Zum anderen gibt es ganz viele andere Formen, die der körperlichen Gewalt fast immer vorausgehen - zum Beispiel Isolation vom Freundeskreis, von der Familie, ständige Demütigungen oder finanzielle Kontrolle. Für diese Formen der Gewalt, insbesondere die psychische Gewalt, müssen wir viel sensibler werden. Denn dies ist in vielen Fällen die Vorstufe zur physischen Gewalt.
In Bezug auf die aktuellen Daten zum Anstieg häuslicher Gewalt sagte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul, dass die Zündschnur bei vielen Menschen kürzer geworden sei. Zu Hause, so Reul, "ist mehr Gewalt eingezogen". Teilen Sie diesen Eindruck?
Diese Aussage suggeriert, dass es sich um ein neues Phänomen handelt, das aus einer Krisensituation heraus neu entstanden ist. Das ist zumindest in Bezug auf Partnerschaftsgewalt falsch. Seit es die Polizeistatistik zu Partnerschaftsgewalt gibt, steigen die Fallzahlen im Hellfeld. Der Anstieg häuslicher Gewalt ist also alles andere als eine neue Entwicklung. Wenn man es nun auf Krisenphasen schiebt, verdrängt man damit schnell, dass häusliche Gewalt ein Problem ist, das schon sehr lange in unserer Gesellschaft verankert ist.
Könnte dieser stetige Anstieg in der Statistik auch mit einer Aufhellung des Dunkelfelds, etwa durch bessere Aufklärung und mehr Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen, zusammenhängen?
Die positive Lesart ist natürlich zu sagen, es gibt eine höhere Anzeigebereitschaft. Das ist sicher ein Faktor und hängt wahrscheinlich auch mit der verstärkten Berichterstattung zusammen. Ob Medienberichte Betroffene ermutigen, hängt allerdings auch von der Qualität der Berichterstattung ab: Es gibt immer noch viele stigmatisierende Berichte, die bei Betroffenen eher eine Scham verstärken. Auch geht es meist um die körperliche Gewalt, sodass sich Betroffene von psychischer Gewalt gar nicht zwingend wiedererkennen und angesprochen fühlen. Auf der einen Seite scheint also das Bewusstsein für häusliche Gewalt zugenommen zu haben. Auf der anderen Seite lässt sich auch bei höherer Anzeigebereitschaft angesichts der Zahlen nicht leugnen, dass häusliche Gewalt zumindest nicht abnimmt. Es ist sehr frustrierend, dass sie nach wie vor geradezu selbstverständlich verbreitet ist. Alle 45 Minuten rückt die Polizei wegen häuslicher Gewalt aus.
Gibt es Regionen oder sogar Bundesländer, in denen häusliche Gewalt besonders verbreitet ist? Laut den Daten der Bundesinnenministerien sind die Fälle vor allem im Saarland gestiegen, während Nordrhein-Westfalen vor allem durch den Anstieg von Körperverletzung bei häuslicher Gewalt auffällt.
Warum die Fälle ausgerechnet in diesen Bundesländern so stark gestiegen sind, können wir nicht erklären. Allerdings unterscheiden sich die Länder und sogar die Kommunen deutlich darin, wie erreichbar die Hilfe für Betroffene ist. Das Hilfesystem bei häuslicher Gewalt ist in Deutschland ein riesiger Flickenteppich.
Inwiefern?
Während die Betroffenen in einigen Kommunen kostenfrei einen Platz im Frauenhaus bekommen, müssen sie beispielsweise in anderen selbst zahlen oder sich zumindest an den Kosten beteiligen. Das können pro Tag zwischen 20 und 90 Euro sein. Es ist absurd, dass Gewaltopfer für ihren Schutz bezahlen müssen. Das ist staatliche Aufgabe. In vielen Regionen sind Frauenhäuser auch nicht langfristig abgesichert, sondern nur freiwillige Leistungen der Kommunen. Wenn dann im Haushalt kein Geld übrig ist, kann das einfach ein Ende der Finanzierung bedeuten. Fast alle Frauenhäuser müssen um Spenden werben, um überhaupt weiterarbeiten zu können.
Welche Folgen hat die prekäre Finanzierung der Frauenhäuser?
Für die Betroffenen ist das verheerend: Wer seinen Platz nicht selbst finanzieren oder mitfinanzieren kann oder alternativ sozialleistungsberechtigt ist, hat in manchen Regionen keine Chance einen Schutzplatz zu finden. Im schlimmsten Fall müssen die Frauen dann bei ihren gewalttätigen Partnern bleiben. Vor dem Hintergrund der unsicheren Finanzierung überrascht es auch kaum, dass es deutlich zu wenige Frauenhäuser gibt. Es fehlen bundesweit über 14.000 Plätze. Betroffene müssen oft mehrere Institutionen anfragen, bis sie einen freien Platz finden. Da stellt sich schon die Frage, wie viele Versuche eine Person, die dringend Hilfe braucht, unternehmen muss, bis sie sie endlich bekommt. Und wie viel sie unternehmen kann.
Was müsste unternommen werden, um das zu ändern?
Wir müssen diejenigen, die Gewalt erleben, angemessen auffangen. Dafür braucht es eine Regelung des Bundes, die sicherstellt, dass Beratungsstellen und Frauenhäuser für alle Frauen - also überall, langfristig und in ausreichender Zahl - zur Verfügung stehen. Es braucht ein Schutzsystem, das niedrigschwellig und kostenlos für alle gewaltbetroffenen Frauen zugänglich ist. Allerdings können wir noch so viele Frauenhäuser bauen, das Grundproblem lösen wir damit nicht: Noch immer schlagen, misshandeln und unterdrücken viele Männer Frauen.
Wie kann das Grundproblem, die häusliche Gewalt, nachhaltig bekämpft werden?
Wir müssen in Prävention investieren. Dafür müssen wir bei jungen Menschen ansetzen und nicht erst dann, wenn die Gewalt schon passiert ist. Es gilt, schon in Schulen und noch besser in Kindergärten zu vermitteln, welche Rollenbilder wir in der Gesellschaft leben wollen und was eine gesunde Beziehung ausmacht. Das kostet Geld. Ohne diese Investitionen werden wir noch in Jahrzehnten über die gleichen bedrückend hohen Zahlen von Partnerschaftsgewalt sprechen.
Mit Elisabeth Oberthür sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de