Justizskandal in Berlin? Deutschland liefert Maja T. aus - unter dubiosen Umständen


Maja T. wurde vergangene Woche zunächst den österreichischen und kurz darauf den ungarischen Behörden übergeben.
(Foto: Screenshot: Ungarische Polizei)
Eine non-binäre Person aus der linksradikalen Szene wird wegen eines europäischen Haftbefehls nach Ungarn ausgeliefert. Weil die Behörden in rasendem Tempo agieren, kommt ein Veto des Bundesverfassungsgerichts zu spät. Die Nacht-und-Nebel-Aktion der Beamten wirft mehrere Fragen auf.
Als sächsische Beamte Maja T. anweisen, sich für die Auslieferung nach Ungarn fertig zu machen, ist es mitten in der Nacht. T.s Anwalt ist sofort in Alarmbereitschaft, noch im Morgengrauen erklärt er der Behörde, dass er einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht stellen werde. Das allerdings hält die Beamten kaum auf. T. wird aus der Zelle eines Dresdener Gefängnisses geholt und bereits am frühen Morgen an die österreichischen Kollegen übergeben.
Nun geht es um Minuten. T. hat Österreich gerade verlassen, als Karlsruhe sein Veto einlegt: Maja T. darf nicht an die ungarischen Behörden übergeben werden, so entscheiden die höchsten Richterinnen und Richter Deutschlands. Ein Erfolg für T. und den Anwalt - allerdings nur auf dem Papier. Denn T. befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Ungarn.
Was sich am frühen Morgen des 28. Juni in einer Haftanstalt in Dresden abspielte, wird von einigen bereits als Justizskandal bezeichnet. Doch was war passiert? Gemeinsam mit dem Landeskriminalamt Sachsen überstellte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Maja T., eine 23 Jahre alte Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, nach Ungarn. Grundlage hierfür war ein Auslieferungsgesuch der ungarischen Behörden. Diese werfen der non-binären Person vor, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, deren Ziel es gewesen sein soll, Sympathisanten der extremen Rechten anzugreifen. Konkret geht es um einen Vorfall im Februar 2023. T. soll an Überfällen auf Teilnehmer eines rechtsextremen Gedenkmarsches in Budapest beteiligt gewesen sein.
"Schande für Deutschland"
Festgenommen wurde die verdächtige Person bereits im vergangenen Dezember in Berlin, seitdem saß sie in Untersuchungshaft. Am vergangenen Donnerstag kam schließlich Bewegung in den Fall: Das Kammergericht Berlin erklärte die Auslieferung von T. nach Ungarn für zulässig. Grundsätzlich wäre dies kaum ein Grund für Aufregung. Das Grundgesetz sieht die Möglichkeit zur Auslieferung von Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung explizit vor, noch dazu geht es hier um - mutmaßlich - schwerste Gewaltverbrechen.
Im Fall von Maja T. ist die Kritik am Berliner Gericht allerdings enorm. "Wir sind schockiert, dass ein deutsches Gericht nun wahr macht, wovor es jedem rechtsstaatlich denkenden Menschen graut: eine queere Person in ein offen queerfeindliches System wie Ungarn zu schicken", sagt etwa Angela Furmaniak aus dem Vorstand des Republikanischen Anwaltsvereins (RAV). Befürchtet wird, dass ein Strafverfahren gegen eine non-binäre und linke Person in dem von Viktor Orbán regierten Ungarn kaum den rechtsstaatlichen Standards entsprechen wird.
Dass diese Vermutung nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt der ähnlich gelagerte Fall der italienischen Lehrerin Ilaria S. Mehrfach wurde das Verfahren gegen die linke Aktivistin vor einem ungarischen Gericht als Schauprozess kritisiert. Zudem schockierten die teils menschenunwürdigen Haftbedingungen die italienische Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund dieses Falles hatte Italiens Justiz ein weiteres Auslieferungsersuchen aus Ungarn erst kürzlich abgelehnt. Dass sich nun ausgerechnet die deutsche Justiz anders entscheidet und "Menschen an Autokraten ausliefert, statt ein rechtsstaatliches Verfahren vor eigenen Gerichten sicherzustellen" sei eine "Schande für Deutschland", mahnte Linken-Chef Martin Schirdewan.
"Nacht-und-Nebel-Aktion" der Behörden
In seiner Entscheidung stellte das Berliner Kammergericht zwar auch fest, dass die ungarische Politik als "gender-, homo- und transfeindlich bezeichnet werden muss". Ein Hindernis für die Auslieferung von T. sah es darin allerdings nicht. Vielmehr seien staatliche Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit "nicht ersichtlich" - einem fairen Verfahren in Ungarn stehe also nichts im Wege. Außerdem hätte Ungarn menschenrechtskonforme Haftbedingungen zugesichert. Für eine mögliche Freiheitsstrafe solle T. ohnehin nach Deutschland rücküberführt werden.
Nun entsprechen richterliche Einschätzungen bekanntlich nicht immer dem Gerechtigkeitsempfinden der Masse. Die Entscheidungen der Rechtsprechenden trotzdem zu akzeptieren, zeichnet einen Rechtsstaat aus. Dem Betroffenen einen Hebel zur Kontrolle an die Hand zu geben, allerdings ebenso. Gerade, wenn das Zähneknirschen besonders groß ist, ist ein funktionierendes Sicherheitsnetz der Justiz unabdingbar. Im Fall von Maja T. liegt allerdings genau hier das Problem: Auf dem Papier hatte T. zwar die Möglichkeit zur Kontrolle der Berliner Richter in Form des Eilantrags beim Bundesverfassungsgericht und bekam dabei sogar - zumindest vorläufig - recht. Praktisch war diese Entscheidung allerdings wertlos.
Denn als diese in Kraft trat, hatten die Behörden bereits Fakten geschaffen. Nun kann der Berliner Generalstaatsanwaltschaft und dem LKA Sachsen kaum vorgeworfen werden, dass sie eine als zulässig erklärte Auslieferung vollstrecken. In den Fokus der Debatte rückt jedoch das "Wie" dieser Auslieferung. "Unserer Ansicht nach war das ganze Setting dieser Nacht-und-Nebel-Aktion darauf ausgelegt, den Rechtsschutz von Maja zu vereiteln", erklärt der Strafverteidiger von T. im Gespräch mit ntv.de. "Anders sind das gewählte Zeitfenster und auch die Eile kaum zu erklären."
Die entscheidenden 50 Minuten
Tatsächlich ist die rasende Geschwindigkeit, mit der die Behörden nach der Entscheidung des Berliner Kammergerichts agieren, bemerkenswert. Nachdem die Überstellung an Ungarn am Donnerstagnachmittag für zulässig erklärt worden war, holten die sächsischen Beamten T. noch in der darauffolgenden Nacht - gegen 3.30 Uhr - aus der Zelle. Um 6.50 Uhr war T. bereits in Österreich und um 10 Uhr soll T. den ungarischen Behörden übergeben worden sein. Zwischen diesem Moment und der Eilentscheidung aus Karlsruhe um 10.50 Uhr lagen damit gerade einmal 50 Minuten. Oder anders: Am Ende könnte es eine gute Dreiviertelstunde gewesen sein, die über das Schicksal von Maja T. entschied.
Denn wäre die Entscheidung aus Karlsruhe ergangen, bevor T. die Grenze überquerte, säße T. zweifellos noch oder wieder in der Dresdener Gefängniszelle. Eine Auslieferung entgegen der ausdrücklichen Anordnung Deutschlands höchster Richter wäre undenkbar, die rechtliche Lage damit eindeutig gewesen. "Aber im Zeitfenster von 3 bis 6 Uhr morgens kriegen Sie in Deutschland natürlich keinen Beschluss", sagt Richwin. "Das ist auch den Behörden klar gewesen."
Damit wurde die rechtliche Lage deutlich komplizierter und unübersichtlicher. So bedachte Karlsruhe bei seiner Entscheidung durchaus die Möglichkeit, dass sich T. bereits hinter der deutschen Grenze befand. Die Richter verboten nicht nur die Auslieferung an Ungarn, sondern ordneten im gleichen Atemzug an, eine Rückführung von T. nach Deutschland zu erwirken. Berlins Generalstaatsanwaltschaft erfuhr gegen 8.30 Uhr - also als sich T. noch in Österreich befand - dass Karlsruhe den Eilantrag gegen die Auslieferung prüft. Damit stellt sich die Frage: Warum haben die deutschen Beamten die Entscheidung der Richter nicht abgewartet und die Auslieferung womöglich noch in Österreich gestoppt? Weil sie dazu überhaupt nicht mehr befugt gewesen sind, erklärt ein Sprecher der Behörde gegenüber ntv.de.
Behörde: Hätten Auslieferung nicht mehr stoppen können
"Die Einflussmöglichkeiten der deutschen Behörden endeten um 6.50 Uhr mit der Übergabe an die österreichischen Behörden", heißt es konkret. Der Grund: Gegenüber Österreich als "durchliefernder Staat" sei nicht Deutschland, sondern Ungarn der "Auftraggeber" gewesen. Somit wären auch nur die ungarischen Behörden in der Lage gewesen, die Auslieferung zu stoppen. Die Berliner Behörde gehe davon aus, heißt es weiter, dass Karlsruhe diese Information "nicht vorlag".
Richwin bezweifelt, dass den deutschen Beamten derart die Hände gebunden waren. Er sei sich sicher, dass diese während T.s Österreich-Aufenthalt weiterhin anwesend waren. "Sicherlich hat es da auch Möglichkeiten gegeben, zu bitten, auf die Entscheidung aus Karlsruhe zu warten." Um seine Vermutung zu belegen, habe er bereits Akteneinsicht beantragt.
Das zweifelhafte Verhalten der Behörden beginnt für den Strafverteidiger jedoch ohnehin nicht erst in Österreich, sondern in der Dresdener Zelle. "Dort hat mein Kollege, Maik Elster, den Beamten bereits angekündigt, einen Eilantrag in Karlsruhe zu stellen." Rein formal habe dies keine aufschiebende Wirkung, "normalerweise respektieren die Behörden diese Ankündigung allerdings und warten die Entscheidung ab". Warum dies ausgerechnet in diesem Fall anders lief, könne er nicht sagen.
"Tricksereien" der Behörde?
Zumal es keinen Grund für die an den Tag gelegte Eile der Behörden gegeben habe, fährt Richwin fort. T. saß bereits seit sechs Monaten in Untersuchungshaft - "es bestand weder Gefahr im Verzug, noch gab es eine Frist zur Auslieferung oder einen nahenden Prozessstart in Ungarn". Für ihn und seinen Kollegen sehe es damit schlichtweg so aus, "als wollte man gezielt verhindern, dass jemand in die Auslieferung eingreift".
Rund fünf Tage nach der Auslieferung sind es nicht nur die Strafverteidiger von T., die den deutschen Behörden schwere Vorwürfe machen. Auch der RAV sowie Amnesty International Deutschland kommen zu dem Schluss, dass das LKA Sachsen und die Generalstaatsanwaltschaft Berlin den Rechtsschutz von T. gezielt unterlaufen haben. Die Vereinigung der Berliner Strafverteidiger*Innen wird in einem Statement noch deutlicher: "Tricksereien zur Verhinderung der Anrufung von (Verfassungs-)Gerichten kennt man eigentlich aus Staaten, die gemeinhin nicht als Rechtsstaaten angesehen werden". Der Fall fordert zudem erste, wenn auch kleinere, Konsequenzen: Berlins Justizsenatorin Felor Badenberg soll heute im Rechtsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zum Vorgehen der Berliner Behörde befragt werden, wie die Zeitung "taz" berichtet.
Kaum Hoffnung auf Rückführung
Sollte sich bei der Prüfung herausstellen, dass deutsche Behörden rechtsstaatliche Vorgänge missachtet und einer Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts gezielt entgegengewirkt haben, hätte es Deutschland zweifellos mit einem immensen Justizskandal zu tun. Für Maja T. dürfte diese Diskussion allerdings derzeit kaum hilfreich sein. Laut Richwin sitzt T. in Budapest in Haft - "erst im selben Gefängnis wie damals Ilaria S.", nun in einer anderen Haftanstalt. Die nächtliche Auslieferung im Eiltempo habe T. "ganz schön überrollt", es bestehe jedoch Kontakt zu einem ungarischen Strafverteidiger.
Richwin und sein Kollege haben derweil kaum Hoffnung, dass sich die Folgen der behördlichen Hauruck-Aktion alsbald rückgängig machen lassen. So sind selbst die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für T. kaum mehr als Unterstützung auf dem Papier: "Ungarische Behörden sind nicht an sie gebunden. Und wir können natürlich nicht einfach in das Land marschieren und die Beschlüsse unserer Gerichte vollstrecken." Bleibt aktuell nur die diplomatische Ebene. Mit der Berliner Behörde ist dabei allerdings nicht zu rechnen. Weil man davon ausgehe, dass sich die Anordnung aus Karlsruhe erledigt hat, arbeite man derzeit nicht auf eine Rückführung von Maja T. hin, heißt es auf Nachfrage von ntv.de.
Quelle: ntv.de