
Um die Infektionswellen zu brechen, gibt es inzwischen bewährte Methoden - Impfen, Maskentragen, Kontaktbeschränkungen. Doch obwohl die Corona-Kennzahlen gerade deutlich steigen, sollen die Maßnahmen nun gelockert werden. Die Experten sind schon jetzt besorgt.
Seit Tagen kennen die Corona-Zahlen nur eine Richtung, nach oben. Seit dem 4. März liegt die Zahl der vom RKI gemeldeten Neuinfektionen durchgängig über dem Wert der Vorwoche. Offiziell betrug die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz am Morgen 1543,0. Zum Vergleich: Am Sonntag lag der Wert bei 1526,8, am Montag vergangener Woche bei 1259,2. Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen binnen 24 Stunden beträgt jetzt 92.378, vor einer Woche waren es 62.349.
Trotzdem läuft der Countdown für weitere Lockerungen. Am 20. März sollen die meisten Corona-Beschränkungen in Deutschland auslaufen. Bisher galten Lockerungen in einen Anstieg der Infektionswelle hinein als wenig sinnvoll. Die logische Argumentation dazu: Wenn die Zahlen ohnehin steigen und dann auch noch Schutzmaßnahmen entfallen, wird der Anstieg noch dramatischer.
Die Modelliererin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen hatte im März 2021 in einer ähnlichen Situation gewarnt, wenn beim Auftreten neuer Corona-Varianten Maßnahmen der Pandemieeindämmung wegfallen, müsse es zwangsläufig zu einem beschleunigten Anstieg der Fallzahlen kommen. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach, der damals noch nicht Gesundheitsminister war, reagierte zur gleichen Zeit auf Lockerungen in Österreich in die B1.1.7-Welle hinein mit den Worten: "Das werden dort viele mit dem Leben bezahlen, wenn man es ehrlich beschreiben darf. Zum Schluss wird dann wieder ein Lockdown kommen, für den sich die Verstorbenen nichts kaufen können." Genau so ist es jetzt mit dem Omikron-Subtyp BA.2 und der sechsten Welle. Modelliererinnen und Modellierer der Technischen Universität Berlin hatten schon Ende Februar den erneuten Anstieg der Fallzahlen befürchtet. Als Hauptauslöser machten sie BA.2 aus, das als noch ansteckender gilt als der bisher dominierende Omikron-Subtyp in Deutschland, BA.1.
Weniger Vorsicht
Die Lockerungen sind für den 20. März trotzdem fest eingeplant. Im bisher vorgelegten Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und Justizminister Marco Buschmann bleiben nach diesem Datum bundesweit nur noch wenige Schutzmaßnahmen möglich, beispielsweise Maskenpflichten in Pflegeheimen, Kliniken und Nahverkehr - und Testpflichten in Heimen und Schulen. Bundesweit bleiben soll auch die Maskenpflicht in Zug und Flugzeug. Die Länder sollen weitere Corona-Auflagen für jeweils auszurufende Hotspots beschließen können.
Im Umkehrschluss heißt dies, dass Masken beispielsweise in Geschäften oder Restaurants demnächst vermutlich weitgehend der Vergangenheit angehören, obwohl auch dort viele Menschen aufeinandertreffen. Lauterbach schaut schon jetzt besorgt auf die Entwicklung vor der weiteren Öffnung. Deutschland weise nun die höchste Inzidenz in Europa auf, schrieb er am Morgen bei Facebook und nennt dafür auch Gründe. "Geimpfte sind jetzt oft unvorsichtig. Sie wissen, dass sie sich infizieren können, aber meist nicht schwer erkranken", so Lauterbach. Ungeimpfte seien aber schutzlos. Ihnen empfiehlt der SPD-Politiker erneut dringend, sich impfen zu lassen. Mit 19,6 Millionen Menschen ist fast ein Viertel der Bevölkerung (23,6 Prozent) auch mehr als zwei Jahre nach Beginn der Pandemie weiterhin ungeimpft. Darunter sind auch etwa vier Millionen Kinder unter vier Jahren, für die noch kein Impfstoff zugelassen ist.
Die zunehmenden Erkrankungen, die eine Krankenhausbehandlung erforderlich machen, zeigen sich ebenfalls bereits in den aktuellen Zahlen. Die adjustierte bundesweite Hospitalisierungsinzidenz erreichte am 11. März mit 13,28 einen neuen Höchststand. Am 10. März lag sie noch bei 12,9, inzwischen könnte der Wert sogar noch weiter gestiegen sein. Dieser Schätzwert gibt an, wie viele Krankenhauseinweisungen mit Covid-Erkrankung es innerhalb der letzten sieben Tage auf 100.000 Einwohner gab. Er bezieht dabei zu erwartende Nachmeldungen mit ein, die die gemeldete Hospitalisierungsrate meist unter der tatsächlichen Zahl der Einweisungen liegen lässt. Bisher waren die meisten Krankenhauseinweisungen innerhalb von sieben Tagen am 28. November festgestellt worden, damals lag die Hospitalisierungsinzidenz bei 13,18.
Höhere Sterblichkeit
Schon am Freitag hatte Lauterbach auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, deutlich davor gewarnt, die aktuelle Lage zu unterschätzen. Täglich würden derzeit 200 bis 250 Menschen an Corona sterben. Seiner Meinung nach sei davon auszugehen, dass diese Zahl in den kommenden Wochen weiter ansteigen werde. Auch Wieler fand deutliche Worte: "Nach wie vor erkranken viel zu viele Menschen schwer an Covid und nach wie vor sterben auch zu viele Menschen an dieser Erkrankung. Und nach wie vor erleiden auch viele Menschen Langzeitfolgen von Covid", so der RKI-Chef.
Dafür, dass die Hospitalisierungsrate besonders bei Älteren wieder deutlich ansteigt, machte Wieler unmittelbar die schrittweisen Lockerungen der Infektionsschutzmaßnahmen vielerorts und das damit verbundene veränderte Verhalten vieler Menschen verantwortlich. Der kontinuierlich steigende Anteil des besonders leicht übertragbaren Omikron-Subtyps BA.2 erhöhe derzeit den Infektionsdruck zusätzlich, so Wieler.
Martin Stürmer, Virologe und Laborleiter am IMD-Labor für interdisziplinäre Medizin und Diagnostik in Frankfurt, verwies in der vergangenen Woche auf Untersuchungen aus Dänemark. Sie deuten darauf hin, dass es selbst nach einer Infektion mit BA.1 noch möglich ist, sich mit BA.2 anzustecken. BA.2 ist wie schon sein Vorgänger BA.1 in der Lage, die Immunantworten von Geimpften und Genesenen teilweise zu umgehen. Einen hundertprozentigen Infektionsschutz gibt es somit nicht, auch wenn die Impfungen das Risiko für schwere Krankheitsverläufe deutlich reduzieren. Aber inzwischen steigt auch die Zahl der Menschen, die nach einem Impfdurchbruch im Krankenhaus behandelt werden müssen.
Die erhöhten Ansteckungen, die mit dem Subtyp einhergehen, lassen sich auch am Steigen des R-Wertes ablesen, der inzwischen wieder konstant über 1 liegt. Damit liegt Deutschland bereits wieder fast im Bereich von exponentiellem Wachstum der Fallzahlen.
Virusdynamik trifft Pandemieüberdruss
Die Virologin Isabella Eckerle warnte am Freitag auf Twitter eindringlich, dass es selten schwieriger war, "die mittelfristige Zukunft mit #SARSCoV2 abzuschätzen als im Moment". Nicht nur löse der Subtyp BA.2 die Variante BA.1 ab. Es zeigten sich zunehmend auch Rekombinationen beispielsweise von Omikron BA.1 und Delta. Außerdem gebe es Befunde chronischer Infektionen mit Varianten-ähnlichen Mutationen. Die hohe evolutionäre Dynamik des Virus treffe jedoch auf die "zunehmende Unlust und abnehmende Energie von Politik und Bevölkerung, noch weiter in wenigstens minimalen Infektionsschutz zu investieren". Dies treibe das Infektionsgeschehen schon jetzt massiv an.
Etwas Hoffnung setzen die Experten noch in die Saisonalität des Coronavirus. Es lässt sich jedoch überhaupt nicht abschätzen, ob sich die aktuelle Variante bei höheren Temperaturen wirklich schlechter verbreitet. Eckerle formulierte drastisch, was nach dem 20. März ihrer Meinung nach zu erwarten ist: "Endlich so viel Freiheit! Freiheit, andere mit #SARSCoV2 anzustecken, Risikopersonen zu gefährden oder sie aus dem öffentlichen Raum auszuschließen, Freiheit, mehr neue Mutationen zu fördern, Freiheit, mit allem so weiterzumachen, dass man weiterhin Pandemien provoziert."
Weniger dramatisch, aber mit einem ähnlichen Ansatz formulierte es zuletzt auch das RKI: Wie das Infektionsgeschehen weiter verläuft, hänge davon ab, "wie stark infektionsrelevante Kontakte im Rahmen der geplanten Lockerungen zunehmen". Ein weiterer Anstieg der Zahlen gilt den Experten jetzt schon als sicher.
Quelle: ntv.de