Panorama

Krieg und Fallschirme in Cannes "Russland hat schon immer Menschen deportiert"

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Rucksäcke für Fallschirmsprünge oder für die Flucht?

Rucksäcke für Fallschirmsprünge oder für die Flucht?

(Foto: Polina Piddubna)

Polina Piddubnas Großmutter hat Krieg und Vertreibung erlebt, nicht nur einmal. Heute lebt sie unter russischem Dauerbeschuss und ist trotzdem zuversichtlich. Von ihrem Leben erzählt ein Kurzfilm, der auf dem Filmfestival in Cannes Premiere feiert.

Der Krieg gegen ihr Heimatland begann für Polina Piddubna nicht am 24. Februar 2022. Auch nicht 2014 im Donbass und nicht mit der Annexion der Krim. Für sie steht die von Moskau verübte Gewalt in einer langen Tradition. Piddubnas Familiengeschichte ist eine, die sich in den postsowjetischen Staaten vielfach findet: Unterdrückung und Vertreibung suchen Generation um Generation heim.

Piddubna kommt aus Charkiw, Ukraines zweitgrößter Stadt, nur 40 Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Nahezu täglich ertönt dort der Luftalarm, surren die Drohnen und schlagen die Raketen ein. Seit sechs Jahren lebt die 24-Jährige in Berlin und studiert an der Filmuniversität Babelsberg. Sie hat einen Film über ihre Großmutter gemacht: einen Zeichentrickfilm, rund zehn Minuten lang. Damit ist sie nominiert bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes.

Polina Piddubna lebt in Berlin.

Polina Piddubna lebt in Berlin.

(Foto: Polina Piddubna)

Der Film heißt "My Grandmother Is a Skydiver" - meine Großmutter ist eine Fallschirmspringerin. Und das stimmt. Als junge Frau sprang Oma Alfiya mit dem Fallschirm vom Himmel. Als in Charkiw Bomben begannen, vom Himmel zu fallen, ist Alfiya geblieben. Sie muss sich schließlich um den Garten kümmern. Wenn ihre Enkelin anruft und fragt, ob es Angriffe gab, beklagt sich die Großmutter über die bestäubungsfaulen Bienen.

Nur nicht verzweifeln

Die Telefongespräche hört man im Film. Und man erfährt, dass Alfiya aus Baschkortostan stammt, einer Republik, die heute im europäischen Teil Russlands liegt. Zu Stalinzeiten wurde die Familie nach Usbekistan deportiert. Mit 15 ging Alfiya nach Tadschikistan, um Hebamme zu werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion brach dort der Bürgerkrieg aus. Alfiya floh mit ihrer Tochter, Piddubnas Mutter, nach Charkiw. Vielleicht braucht es ein solches, fast 80-jähriges Leben, um ihrer Enkelin den Rat geben zu können, nicht zu verzweifeln: Denn alle Kriege enden.

"Mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine verstand ich, dass jede Generation meiner Familie Krieg und Flucht erlebt hat", sagt Piddubna im Gespräch mit ntv.de. "Es gibt dieses ständige Trauma." Piddubna ist den Spuren ihrer Großmutter hinterher gereist, durch die Ukraine und Tadschikistan, aber auch durch Georgien, Kasachstan und Kirgistan.

"Ich wollte die Orte sehen, an denen meine Familie gelebt hat, damit ich weiß, wovon ich erzähle. Aber ich wollte auch das kollektive Trauma verstehen, das viele Menschen aus den postsowjetischen Ländern teilen." Piddubna sprach mit Angehörigen, Aktivistinnen und Historikerinnen, ist sogar selbst Fallschirm gesprungen. Ein ganzes Jahr recherchierte sie.

Zwischen Leben und Tod

Entstanden ist ein Kurzfilm, in dem die Jahrzehnte verschwimmen: Während Piddubna mit ihrer Großmutter telefoniert, schaut man einer jungen Alfiya zu, die das Fallschirmspringen übt. Die Geburten begleitet, neues Leben begrüßt und immer wieder dem Tod entkommen muss. Dann weichen die Pastellfarben einem bedrohlichen Schwarz.

Die Arbeit am Film war für Piddubna eine Form der Therapie. "Ich habe einen Teil meiner Identität entdeckt. Ich bin nicht nur Ukrainerin, es gibt da noch mehr." Doch es geht ihr auch darum, Aufmerksamkeit zu schaffen. "Der russische Imperialismus hat seit Jahrhunderten Territorien kolonialisiert, Menschen deportiert und in Lager gesteckt. In Westeuropa wissen das viele nicht."

Aufmerksamkeit erhält Piddubna dieser Tage in Cannes. "My Grandmother Is a Skydiver" läuft in der Auswahl "La Cinef", eine Kategorie für Filme aus Filmhochschulen - ausgewählt aus 2700 Einreichungen. Als der Anruf aus Cannes kam, musste Piddubna weinen, erzählt sie. Oma Alfiya hatte von den Filmfestspielen noch nie gehört, aber sie freut sich, dass dort der Film ihrer Enkelin gezeigt wird. Und sie freut sich über den Garten. Er blüht.

Quelle: ntv.de

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