Panorama

Größte Bevölkerung der Welt Indiens Einwohnerzahl ist "nationales und globales Problem"

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Indien hat China bei der Einwohnerzahl überholt, die Bevölkerungsdichte ist fast doppelt so groß wie in Deutschland.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

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Das Land mit den meisten Menschen der Welt ist seit Kurzem nicht mehr China, sondern Indien. 1,4 Milliarden Menschen leben in der größten Demokratie der Welt. Und in den nächsten Jahren werden es noch mehr. Für die Wirtschaft eine Chance - für den Staat eine Herausforderung.

Jahrzehntelang war das ein unumstößlicher Fakt: China ist das bevölkerungsreichste Land der Welt. Doch das hat sich mittlerweile geändert. Indien hat China überholt. Seit Ende April kommt Indien auf 1,425 Milliarden Einwohner, schätzen die Vereinten Nationen. Ähnliche Zahlen nennt der Bevölkerungsfond der Vereinten Nationen. Demnach leben in Indien - Stand Ende April - sogar 1,428 Milliarden Menschen, in China sind es dagegen "nur noch" 1,425 Milliarden.

Wann genau das entscheidende Baby zur Welt gekommen ist, kann niemand ganz genau sagen. Denn die letzte Volkszählung in Indien 2011 ist schon eine ganze Weile her. Eigentlich sollte es 2021 eine Neuauflage geben, diese wurde aber wegen der Corona-Pandemie verschoben. Frühestens nächstes Jahr soll die Volkszählung nachgeholt werden. Somit mussten sich die UN auf die älteren Zahlen verlassen, hat außerdem Trends zu Fruchtbarkeit, Sterblichkeit und Migration in die Berechnungen einfließen lassen.

Für Stefan Klonner, Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungsökonomie am Südasieninstitut der Universität Heidelberg, ist der Bevölkerungsrekord des südasiatischen Landes kein Grund zum Feiern. "Die Bevölkerungsdichte dort ist fast doppelt so groß wie in Deutschland. Das ist ein nationales Problem für Indien und natürlich auch ein globales Problem, gerade auch im Hinblick auf das weiterhin schnelle Wirtschaftswachstum, was natürlich auch immer weiteren Konsum und Verbrauch von natürlichen Ressourcen und Belastung der Umwelt mit sich bringt", sagt Klonner im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Wer sich sterilisieren lässt, wird belohnt

Dabei waren Indien und China bei der Geburtenrate vor wenigen Jahrzehnten noch gleichauf. 1971 haben die Frauen in beiden Ländern im Durchschnitt noch sechs Kinder zur Welt gebracht. Dann aber kam die chinesische Ein-Kind-Politik, Ende der 1970er Jahre. Die Geburtenrate sackte ab, schneller als die indische.

Auch Indien hatte in den 1970er Jahren versucht, Familien nur ein Kind vorzuschreiben, weil die Bevölkerung zu explodieren drohte. Die damalige Premierministerin Indira Gandhi erklärte den Ausnahmezustand. Millionen Männer und Frauen wurden zwangssterilisiert. Die Geburtenkontrolle scheiterte letztendlich am Protest der Bevölkerung.

Seit den 1980er Jahren verspricht die Regierung Inderinnen und Indern Geldprämien, wenn sie sich sterilisieren lassen. Und sie können Fernseher, Kühlschränke oder Motorräder gewinnen. Im Rahmen des jüngsten Programms bekommen Mütter Prämien, wenn sie ihre Kinder zum Impfen bringen und an Gesundheitschecks teilnehmen, berichtet Klonner im Podcast - allerdings nur beim ersten Kind. Zudem dringe in Indien zunehmend ein westlicher Lebensstil ein, "da gehören nicht so viele Kinder dazu". Erfahrungsgemäß führten Wirtschaftswachstum und höherer Wohlstand zu niedrigeren Geburtenraten.

Indiens Bevölkerung wächst noch Jahrzehnte

Diese Anreize für kleinere Familien haben ziemlich gut funktioniert: Die Fertilität sei in den vergangenen Jahrzehnten enorm gesunken, macht Klonner klar. Eine so starke Veränderung in dem freien und demokratischen Land habe er vor 20 Jahren noch nicht für möglich gehalten.

Vergangenes Jahr hatte eine Chinesin im Schnitt nur noch 1,18 Kinder - eine der niedrigsten Fruchtbarkeitsraten der Welt. Eine Inderin bekommt mit 2,1 Kindern fast doppelt so viele. Damit liege Indien leicht unter dem Erhaltungsniveau, so Klonner - das ist die Geburtenzahl, die nötig ist, damit die Bevölkerungszahl gleich groß bleibt. Eine Geburtenkontrolle - über die mehrere indische Bundesstaaten nachdenken - sieht er heute nicht mehr als nötig an.

Vorerst wächst Indien aber immer weiter, um durchschnittlich 1,2 Prozent pro Jahr. Das entspricht in etwa dem Zuwachs der Weltbevölkerung. Erst 2064 ist laut Prognose Schluss. Dann ist mit 1,7 Milliarden Inderinnen und Indern der Zenit erreicht.

"Gesundheitsversorgung verbessert sich kontinuierlich"

Das Bevölkerungswachstum stellt Indien vor große Herausforderungen. Für die vielen Menschen müssen Wohnhäuser, Gesundheitsversorgung, Straßen, Wasser und Lebensmittel her. Besonders ernst ist die Ernährungssituation. Im Welthunger-Index hat sich Indien im vergangenen Jahr mit einem Wert von 29,1 auf Platz 107 von 121 Ländern verschlechtert. Vor allem viele Kinder hungern. Fast jedes fünfte Kind ist unterernährt. Vergangenes Jahr hatte außerdem eine Serie von Hitzewellen zu großflächigen Ernteausfällen geführt.

In anderen Bereichen aber hat Indien aufgeholt. Der Staat investiert jedes Jahr umgerechnet gut 100 Milliarden Euro in die Infrastruktur, wie Wohnungsbau, Straßen- und Schienenverkehr. "Indien hat einen großen Anteil des Wirtschaftswachstums der letzten 30 Jahre benutzt, um die soziale Infrastruktur, insbesondere das Gesundheitssystem, und das Schul- und Ausbildungssystem zu stärken. Die Gesundheitsversorgung verbessert sich kontinuierlich im Trend", macht Klonner im "Wieder was gelernt"-Podcast klar.

Junge Arbeitskräfte als Wirtschafts-Booster

Mit einem Durchschnittsalter von 27,9 Jahren ist Indiens Bevölkerung deutlich jünger als in den anderen wichtigen Industrie- und Schwellenländern. In den USA sind die Menschen durchschnittlich 37,9 Jahre alt, in China 38,5, in Deutschland sogar 44,8.

Dass Indien im internationalen Vergleich eine junge Bevölkerung hat, ist für das Land eine Chance, sagt Experte Klonner. Denn viele junge Menschen können arbeiten und damit die Wirtschaft nach vorn bringen. Die Politik hofft auf einen Wirtschafts-Booster.

"Das Bevölkerungswachstum - die vielen jungen Menschen, das große Arbeitskräfte- und Nachfragepotenzial - wird insgesamt einen starken Wachstumsschub auslösen", prognostiziert Dirk Dohse, Ökonom am Institut für Weltwirtschaft Kiel im Gespräch mit ntv.de. Eine wachsende Bevölkerung, die arm bleibe, wünsche sich aber niemand. "Das ist das große Problem, das auf Indien zukommen könnte."

Die meisten Inder haben Schattenjobs

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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Das Problem ist aber: Es gibt zwar genügend Arbeit in Indien, aber die meisten Jobs sind informell, also Schwarzarbeit oder Arbeit in der Landwirtschaft: nicht abgesichert, ohne Mindestlohn, Sozialversicherung oder Arbeitsschutz - und mit schlechten Arbeitsbedingungen. Ein "Zweiklassensystem unter den Arbeitnehmern", nennt es Klonner im Podcast. "Die Breite der Bevölkerung, mehr als 50 Prozent, ist in der Landwirtschaft tätig oder in Sektoren wie Bau und Nahrungsmittelversorgung in Städten und Einzelhandel. Und da sind die informellen Arbeitsverhältnisse weiterhin noch sehr verbreitet."

Diese Schattenjobs sind jedoch das Rückgrat der Wirtschaft und geben den meisten Indern Arbeit. Die Regierung will das zwar ändern, will "gute Jobs" schaffen - aber die Angst vor einem Wirtschaftskollaps ist groß.

Geregelte Stellen sind rar, nur 10 bis 20 Prozent der Menschen in Indien haben ein solches Arbeitsverhältnis, berichtet Klonner. Die Hürden, in einen formellen Job zu kommen, seien sehr hoch. Die indische Arbeitslosenquote ist mit 7,3 Prozent etwa dreimal so hoch wie in Deutschland. Viele junge Leute finden keine Stelle. Die jungen Inder und Inderinnen sind ehrgeizig, wollen nicht nur Türsteher oder Reinigungskraft sein - sondern träumen von gut bezahlten Jobs. Das zeigt der Ansturm auf staatliche Angebote. Bei der indischen Armee und der Eisenbahn bewerben sich auf zehntausende Jobs regelmäßig mehrere Millionen junge Menschen.

Frauen bleiben Zuhause - trotz zunehmendem Wohlstand

Hoffnung machen die Pläne von internationalen Konzernen. Der größte Apple-Zulieferer Foxconn will in Indien zwei große Fabriken eröffnen - mit jeweils 100.000 Jobs in den kommenden Jahren. Formalisierte Arbeitsverhältnisse seien in den Konzernen Standard, weiß Klonner, von diesen profitiere aber angesichts der riesigen Bevölkerung Indiens nur eine kleine Arbeitselite.

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Noch mehr Jobs wären nötig, wenn auch die Frauen arbeiten würden. Doch die bleiben in Indien meist Zuhause. Nur etwa 24 Prozent der indischen Frauen haben bezahlte Arbeitsstellen. "Eigentlich würde man bei dem Bevölkerungswachstum und der Zunahme an Wohlstand erwarten, dass die Teilnahme von Frauen im Arbeitsmarkt zunimmt. Da bleibt Indien tatsächlich zurück", berichtet Klonner. In den vergangenen 20 Jahren habe sich eine wohlhabende, städtische Mittelschicht entwickelt. Auch auf dem Land hätten sich die Lebensumstände deutlich verbessert.

Wenn Indien weiter wächst wie bisher, könnte es schon Ende dieses Jahrzehnts oder Anfang der 2030er Jahre vom aktuell fünften Platz zur drittgrößten Volkswirtschaft nach den USA und China aufsteigen, sagt IfW-Experte Dohse voraus. Weil Europa und die USA unabhängiger werden wollen von China, brauchen sie neue Partner - Indien wäre da die beste Wahl, so der Ökonom. Einen großen Vorteil hat Indien gegenüber China: die junge Bevölkerung - und damit viele potenzielle Arbeitskräfte.

Quelle: ntv.de

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