Zehn Jahre "Team Wallraff" "Mich haben immer Menschen bewegt, denen Unrecht geschieht"
01.11.2023, 17:15 Uhr Artikel anhören
Seit zehn Jahren sind die Reporterinnen und Reporter des "Team Wallraff" Missständen auf der Spur.
(Foto: RTL)
Günter Wallraff steht für investigativen Journalismus. Seit zehn Jahren zeigt sein "Team Wallraff" immer wieder haarsträubende Zustände in Pflegeeinrichtungen, Fast-Food-Restaurants oder Logistikunternehmen. Für den inzwischen 81-Jährigen haben diese Recherchen nichts an Dringlichkeit verloren.
Herr Wallraff, seit zehn Jahren läuft Ihr Enthüllungsformat "Team Wallraff - Reporter Undercover" bei RTL. Wie hat es sich angefühlt, die ersten Folgen nochmal anschauen?
Ich war positiv erschrocken, als ich die alten Bilder sah, weil ich mich in den letzten zehn Jahren optisch ja nicht zu meinem Vorteil verändert habe. Ich war damals noch ein hochtrainierter Sportler, hatte dann aber einen schweren Fahrradunfall. Heute bin ich 81 und spiele nur noch Tischtennis - das sind meine privaten Herausforderungen. Der Rückblick "Team Wallraff - 10 Jahre undercover" läuft am Donnerstag um 20.15 Uhr bei RTL und auf RTL+.
Wie kam es damals eigentlich zu dieser Zusammenarbeit mit RTL?
Ich hatte über Jahrzehnte immer wieder mit öffentlich-rechtlichen Sendern gearbeitet und auch positive Erfahrungen gemacht. Aber bei zentralen Themen wurde oft aus politischen Gründen oder juristischen Bedenken nichts riskiert. Mein Film "Ganz unten", für mich mit die wichtigste Arbeit, lag über Jahre im Giftschrank, obwohl er höchste Preise bekam. Das Gleiche bei meiner Untersuchung der "Bild"-Zeitung, wo ich undercover war. Man sagte, wir dürfen das nicht senden, obwohl es inzwischen ein Grundsatzurteil gab, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, informiert zu werden, wenn es um gravierende Missstände geht. Auch, wenn man diese undercover zu sehen bekam. Nachdem ich viele Behinderungen erlebte, bin ich über befreundete Produzenten auf RTL zugegangen und habe gefragt: Könnt ihr euch ein Format vorstellen, wo auch Werbekunden nicht geschont werden? Und zu meiner Überraschung ist uns das gelungen! Hier habe ich Kollegen, Freunde, die wirklich mit Begeisterung und Engagement die jeweiligen Themen verfolgen. Solange das so ist, können wir auch was bewegen und Veränderungen erreichen. Wir wollen nicht skandalisieren, wir wollen Missstände sehr konkret schildern. Wenn wir von Fall zu Fall etwas verbessern, dann ist das die größte Genugtuung. Und das gelingt uns immer wieder.
Wie geht es nach den Ausstrahlungen weiter, recherchiert Ihr Team an den Themen weiter?
Wenn wir für ein oder zwei Jahre erreichen, dass sich wirklich etwas verändert, dann müssen wir leider auch oft erleben, dass vieles wieder in die alten Strukturen fällt. Es geht dann um Gewinnabsicht und Profit, gerade im Pflegebereich. Ich finde das selbst bedauerlich, dass wir etliche Zuschriften erhalten, dass es doch wieder schlimmer geworden ist. Über solche Fälle müssen wir leider immer wieder berichten.
Wofür steht Team Wallraff heute?
In erster Linie geht es uns darum, Missstände nicht nur aufzudecken, sondern sinnlich erfahrbar zu machen, indem Kolleginnen und Kollegen sich diesen aussetzen. Damit sind wir fast die einzigen innerhalb der Medien, die das auf sich nehmen. Und das ist nicht so ohne, wenn man über Wochen alles hinter sich lässt, seinen Wohnort wechselt und nicht erkannt werden darf. Um bei den Billigfluggesellschaften verdeckt zu recherchieren, brauchte eine Kollegin eine Spezialausbildung. Das hat sie über sich ergehen lassen. Ein Kollege hat einen Busführerschein gemacht, um sich die Zustände über längere Zeit anzuschauen. Also würde ich sagen: ganz großer Respekt an die Reporter und Reporterinnen.
Welcher Einsatz in den letzten zehn Jahren war rückwirkend für Sie am wichtigsten?
Oh je, das ist schwierig. Aber ich würde sagen, dass die Alten- und Pflegeheime mir sehr wichtig sind. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal, ein großer Missstand. Da wird tagtäglich gegen die Menschenwürde verstoßen. Den Zuschriften, die wir täglich bekommen, gehen wir immer wieder nach. Und in Einzelfällen haben wir auch etwas erreicht. Aber wir müssen das auf Dauer schaffen. Es gibt aber auch andere Einsätze, die mich bewegt haben, alltägliches Arbeitsunrecht, beispielsweise bei der Paketauslieferung. Das habe ich selber mitgemacht. Ich habe bei einem Auslieferer gewohnt. Um 4 Uhr morgens aufstehen, 14 Stunden am Stück arbeiten. Ich war trainierter Sportler, aber ich bin an meine Grenzen gekommen. Daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. Die Konzerne machen einen riesigen Werbezirkus, aber bieten schlimmste Arbeitsbedingungen, die wir immer wieder aufs Neue untersuchen müssen.
Woran arbeitet Ihr Team gerade?
Ich möchte jetzt nicht zu viel Einzelheiten verraten, sonst würde ich diejenigen schon warnen. Wir haben mehrere Themen, die drastisch, grausam und zum Teil entsetzlich sind. Überall da, wo Arbeitsrecht und Menschenrechte verletzt werden, schauen wir genau hin. Wir leben zum Glück in einer Demokratie, wir können etwas verändern, auch wenn man versucht, uns einzuschüchtern. Es gab Fälle, wo ein Krankenhauskonzern mehr als 120 Abmahnungen über Anwälte zukommen ließ. Nachher konnten wir mit unseren Anwälten alles abwehren. Die, die am meisten Dreck am Stecken haben, versuchen uns einzuschüchtern und eine Veröffentlichung zu verhindern. Aber in diesen Fällen sagen wir immer: jetzt erst recht.
Welche Enthüllungen waren für Sie in den letzten zehn Jahren die aufsehenerregendsten?
Das kann man so gar nicht auf Einzelne festlegen. Die Zustände in geschlossenen Einrichtungen, in Krankenhäusern, Psychiatrien, Jugendhilfen und Pflegeheimen sind nicht akzeptabel. Aber man lässt es geschehen, auch Politiker sehen darüber hinweg. Ich würde das also gar nicht auf einzelne Themen festlegen, sondern finde, dass es viele wichtige Themen gibt, die ein allumfassendes gesellschaftliches Problem sind. Missstände, die eigentlich offenkundig, aber nicht im öffentlichen Bewusstsein sind, weil man zu sehr darüber hinwegsieht.
Sie haben Ihr Leben diesen Dingen gewidmet. Woher kommt dieser ungeheure Antrieb, für Verbesserungen zu kämpfen?
Ich habe mich oft gefragt: Wer bin ich? Ich musste das immer neu zu spüren kriegen. Darum hatte ich das Bedürfnis, mich in Situationen zu begeben, manchmal auch über Jahre, wo ich für die Rolle ein anderer wurde. Mich haben immer Menschen bewegt, denen Unrecht geschieht und die benachteiligt werden. Über die hat man hinweggesehen, aber zu denen gehörte ich. Mein Freundeskreis, das sind Menschen aus anderen Kulturen, auch Obdachlose. Ich bin jemand, der immer noch ein Suchender ist, der nicht fertig ist.
Was erwartet die Zuschauer bei dieser speziellen Jubiläumssendung?
Mich selbst hat erstaunt, dass wir 27 verschiedene Rollen angenommen haben, in denen Kollegen und Kolleginnen sich die schlimmsten Zustände angetan haben. Dass es so viele waren, habe ich zum Teil nicht mehr auf dem Schirm gehabt. So ist diese Sendung ein toller Überblick für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer, die das vielleicht auch noch nicht gesehen haben. Und es ist vielleicht eine Genugtuung, dass wir in vielen Bereichen etwas erreicht und verbessert haben. Das ist auch der Grund, dass wir weitermachen.
Quelle: ntv.de, sba