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Flugblatt-Aktion vor Gericht Palästina-Aktivistin verurteilt: Terror ist kein Widerstand

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Berlin-Neukölln ist regelmäßig Schauplatz von Demonstrationen in Solidarität mit den Palästinensern.

Berlin-Neukölln ist regelmäßig Schauplatz von Demonstrationen in Solidarität mit den Palästinensern.

(Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE)

Vor dem Berliner Amtsgericht muss sich eine propalästinensische Aktivistin verantworten. Es geht um ein Flugblatt, allerdings auch um das große Ganze des Nahost-Konflikts. Über das Recht der Palästinenser auf Widerstand herrscht dabei Konsens, über den 7. Oktober nicht.

Montagmittag vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin: Eine Polizeikette trennt den Gebäudeeingang von einer Gruppe junger Menschen mit Palästinensertüchern. Neben der durch Sprechchöre und Fahnen vorgebrachten Solidarität mit Palästina unterstützen sie diesmal in erster Linie die angeklagte Aktivistin Jana N. Die Staatsanwaltschaft wirft der 20-jährigen Studentin gleich zwei Vergehen vor, die sich beide in den Tagen beziehungsweise Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 in Neukölln abgespielt haben sollen.

Der Berliner Stadtteil war zu dieser Zeit wöchentlich Schauplatz propalästinensischer Demonstrationen, verlässlich kam es zu Zusammenstößen und Festnahmen. Parallel zur aufgeheizten Stimmung auf den Straßen brach sich eine nicht minder hitzig geführte Debatte über Israelkritik und Antisemitismus Bahn, die sich im Prozess vor dem Amtsgericht Tiergarten fortsetzt.

Das T-Shirt der nicht vorbestraften N. zeigt eine zum Victory-Zeichen geformte Hand in den palästinensischen Farben, auch sie hat eine Kufiya um den Hals geschwungen. Im Gerichtssaal sucht sie immer wieder lächelnd den Blick zu den rund 25 Aktivistinnen und Aktivisten, die auf den Publikumsbänken Platz genommen haben. "Störungen werden nicht hingenommen", stellt die Vorsitzende Richterin Friederike Bartl zu Beginn der Verhandlung vorsorglich klar.

Den öffentlichen Frieden gestört haben soll N. am 11. Oktober 2023, vier Tage nach dem Hamas-Massaker, vor einem Gymnasium an der Neuköllner Sonnenallee. Dort hatte sich zwei Tage zuvor ein aufsehenerregender Vorfall ereignet. Ein 14-jähriger Schüler kam mit einer palästinensischen Flagge in die Schule und geriet mit einem 61-jährigen Lehrer aneinander. Ein weiterer Schüler mischte sich ein, es kam offenbar zu Gewalt, auch durch die Lehrperson.

Flyer auf Versammlung verteilt

Infolgedessen sollte es eine Demonstration vor der Schule geben, die von der Polizei aber untersagt wurde. Dennoch versammelten sich einige Dutzend Menschen vor dem Gymnasium, darunter die Angeklagte. Sie gab zu, einen Flyer mit dem Titel "Palästina sprengt seine Ketten" verteilt zu haben, durch den nach Auffassung der Staatsanwaltschaft "die Tötungen und Entführungen von Zivilisten durch die Terrorgruppe Hamas" legitimiert wurden.

"Von Berlin bis nach Gaza, Yallah Intifada", "Für ein freies Palästina ohne Zugeständnisse", "Wir stehen an der Seite mit dem palästinensischen Befreiungskampf, vom Fluss bis ans Meer" - die auf dem Flyer abgedruckten Parolen waren und sind so oder so ähnlich auch auf propalästinensischen Demonstrationen zu hören. Umstritten ist insbesondere der Ausspruch "From the river to the sea", der Bezug nimmt auf das Gebiet zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer - jenes Gebiet, auf dem sich Israel, das Westjordanland und der Gazastreifen befinden. Das Bundesinnenministerium hatte den Ausspruch im November vergangenen Jahres kurzerhand verboten, Beamte griffen bei Verstößen ein.

Gerichte beurteilen die Sachlage komplexer. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof erklärte im Juni 2024 ein pauschales Verbot der Parole für rechtswidrig. Im August verurteilte das Berliner Amtsgericht eine 22-Jährige dennoch wegen der Verwendung des Spruches auf einer Demonstration kurz nach dem 7. Oktober zu einer Geldstrafe. Die Begründung des Gerichts: In diesem Kontext könne der Satz ausschließlich als "Leugnung des Existenzrechts Israels und Befürwortung des Angriffs verstanden werden."

Jana N. verteilte die Flyer im selben Zeitraum, in ihrem Fall lässt die Richterin in einer ersten Einschätzung allerdings mehrere Interpretationen zu. Die Parole existiere seit den 1960er Jahren und könne auch die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung hin zu einer Zwei- oder Einstaatenlösung ausdrücken, führt sie aus. Diese Deutung sei einer Lesart, die auf Israels Auslöschung abzielt, vorzuziehen. Im Zweifel also für die Meinungsfreiheit.

Vorwurf der "Billigung von Straftaten"

Wohl keine Doppeldeutigkeiten gebe es hingegen bei den ersten beiden Sätzen des Flugblatts. Darin heißt es: "Seit dem 7. Oktober haben verschiedene Kräfte der palästinensischen Befreiung weite Gebiete vom Fluss bis zum Meer von der israelischen Besatzung befreien können. Es ist ein historischer Moment für alle Befreiungskämpfe der Welt." Mit Blick auf die rund 1200 Toten sei hier von einer "Billigung von Straftaten" auszugehen, was wiederum eine Straftat ist.

Die Angeklagte erklärt, sie stehe hinter dem Inhalt des Flyers. In ihrer Erklärung - es ist ihre einzige Wortmeldung im Prozess - spricht sie von einem israelischen "Siedlerkolonialismus", einem fortlaufenden "Genozid" an den Palästinensern und einem seit 76 Jahren andauernden palästinensischen Widerstand, der am 7. Oktober seinen "Höhepunkt" erreicht habe. Lautes Klatschen auf den Zuschauerrängen, die Richterin droht mit Räumung.

Um die Aussagen des Flyers zu legitimieren, will die Verteidigung das Völkerrecht heranziehen. Rechtsanwalt Alexander Gorski beantragt zwei Gutachten, die unter anderem vom Völkerrechtler Kai Ambos durchgeführt werden sollen, und nimmt die zu erwartenden Ergebnisse gleich vorweg. Als unter Besatzung lebendes Volk hätten die Palästinenser ein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Widerstand. Gorski bezieht sich auf ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, wonach die Menschen im Gazastreifen trotz des israelischen Abzugs 2004/2005 noch immer unter Besatzung leben. Die Angriffe des 7. Oktober hätten auch "militärischen Zielen" gegolten, völkerrechtlich könne dies als Widerstand ausgelegt werden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung seiner Mandantin sei damit gedeckt, so die Argumentationskette des Anwalts. Richterin Bartl schmettert den Beweisantrag ab. Das Völkerrecht sei dem Gericht geläufig, das Recht auf Widerstand der Palästinenser ebenso.

Polizist von hinten umklammert

Zehn Tage nach der Flugblatt-Aktion soll N. ein zweites Delikt begangen haben. Bei einer "Ansammlung mit propalästinensischem Bezug" in Neukölln hat sie laut Anklage einen Polizisten in den Rücken gestoßen und ihn mit Händen und Füßen umklammert, um die Festnahme einer weiteren Person zu verhindern. N. äußert sich dazu nicht, dafür der mutmaßlich geschädigte Polizist, der von einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Protestierenden und Polizeibeamten, Beleidigungen gegen seine Person und jener huckepackartigen Umklammerung berichtet. Verletzt worden sei er dabei nicht. Einer seiner Kollegen bestätigt die Ausführungen weitestgehend, ein anderer kann sich an kaum etwas erinnern.

Für Empörung bei Anwalt Gorski sorgt indes ein Vorschlag der Jugendgerichtshilfe, die Angeklagte solle zur Strafe Freizeitstunden bei der Jüdischen Gemeinde in Berlin leisten, da diese sich "für den Staat Israel" einsetze. Der Vorschlag sei "dreist", findet Gorski, der Aktivismus seiner Mandantin richte sich nicht gegen Jüdinnen und Juden. Überdies sei es nicht Erziehungsaufgabe des Gerichts, "die Liebe junger Menschen zum Staat Israel" zu stärken. Ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe argumentiert, N. behaupte, dass in Gaza ein Genozid durch Israel verübt wird. "Wird es auch", entgegnet Gorski und verweist auf Südafrikas Völkermordklage vor dem Internationalen Gerichtshof.

In seinem Abschlussplädoyer charakterisiert Gorski seine Mandantin als junge, engagierte Frau, die sich für Menschenrechte einsetzt. Die deutsche Öffentlichkeit vorverurteile propalästinensischen Aktivismus, Versammlungen würden kriminalisiert und legitimer Protest als antisemitisch gebrandmarkt. Im Flyer sei es jedoch "nicht um Antisemitismus, sondern um einen rechtswidrigen Besatzungszustand" gegangen. Das Gericht dürfe nicht "blind der Staatsräson folgen".

Urteil nach dem Jugendstrafrecht

Das Urteil deckt sich schließlich mit der anfänglichen Einschätzung: Justiziabel waren demnach lediglich die Passagen des Flugblatts, die den Terror vom 7. Oktober als "Befreiungskampf" bezeichnet haben. "Das war Glorifizierung und Billigung der Hamas-Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung", sagt Richterin Bartl. Beim Vorwurf des Widerstands und des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte folgt das Gericht in weiten Teilen der Anklage.

N. muss innerhalb von drei Monaten 50 Stunden Freizeitarbeit leisten. Wo, bleibt offen, in einer jüdischen Einrichtung müsse dies aber nicht geschehen. Das wäre eine "politische Einmischung", die nicht in den Aufgabenbereich des Strafrechts falle, so die Richterin. Die Entscheidung nach dem Jugendstrafrecht sieht außerdem die Teilnahme der jungen Frau an einem Kurs namens "Respekt" vor, der ihr ein "besseres Verständnis für Polizeiarbeit" vermitteln soll. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Nach Ende des fast vierstündigen Prozesses tritt N. vor das Gerichtsgebäude, wo sie von etwa 30 Personen empfangen wird. Ihren Unterstützerinnen und Unterstützern gegenüber macht sie klar, was sie vom Strafmaß hält: Der Kurs heiße zwar "Respekt", doch vor "Bullen" werde sie niemals Respekt haben.

Quelle: ntv.de

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