Tod, Trauma, Verdrängung "Der Weltkrieg war eine Massenschlächterei"
07.05.2015, 16:02 Uhr
Der Krieg an der Ostfront wurde mit extremer Härte geführt.
(Foto: AP)
Trotz des massenhaften Mordens und Sterbens: Für viele Wehrmachtssoldaten wird der Zweite Weltkrieg die "schönste Zeit des Lebens". Warum das so ist und die Barbarei in der Natur des Krieges liegt, erklärt der Historiker Sönke Neitzel im Gespräch mit n-tv.de.
n-tv.de: Viele Wehrmachtssoldaten nennen den Zweiten Weltkrieg "die schönste Zeit ihres Lebens". Wie kann das sein?
Sönke Neitzel: Das ist eine Frage der Perspektive. Wenn wir heute den Zweiten Weltkrieg betrachten, sehen wir vor allem den Holocaust, Massenverbrechen, Tod und Leid. Für die Wehrmachtssoldaten waren dagegen das unmittelbare Erleben und der Alltag wichtiger. Der Krieg bedeutete für sie soziale Anerkennung, Kameradschaft, Reisen in ferne Länder. So intensive Erlebnisse wie die Aufregung und die Anspannung in einem Gefecht haben sie danach vielleicht nie wieder erlebt.
Gibt es Schätzungen, wie viele Wehrmachtssoldaten sich an Kriegsverbrechen beteiligt haben?
Angeblich fünf Prozent. Ich halte von so einer Zahl aber gar nichts, kein Mensch kann das heute seriös sagen. Und schließlich: Was ist ein Kriegsverbrechen? Ist das die Beteiligung an einer Massenerschießung von Juden in der Sowjetunion? Oder auch die Plünderung von Hab und Gut der lokalen Bevölkerung?
Wieso töteten Soldaten auch Frauen und Kinder?
Der Zweite Weltkrieg war ein Krieg der Ideologien, in dem ganz eigene Gesetze galten. Als ein totaler Krieg löste er viele Regeln auf, Gefangene etwa wurden an der Ostfront 1941 auf beiden Seiten sehr oft erschossen. Im Partisanenkrieg sagten die deutschen Soldaten: "Wer Partisan ist, muss umgelegt werden. Da sind auch harte und brutale Repressalien gerechtfertigt." Auch wenn dabei Frauen und Kinder umgebracht wurden. In vielen anderen Fällen dagegen missbilligten sie die massenhafte Ermordung von Kriegsgefangenen oder Zivilisten.
Warum begingen sie dann trotzdem die Verbrechen?
Da sind wir beim sozialen Druck: Alle machen es, es ist befohlen. Das situative Element spielt eine enorm wichtige Rolle, um Menschen zu Handlungen zu bringen, von denen sie sich nie vorstellen konnten, sie zu begehen.
Liegt die Barbarei in der Natur des Krieges?

Sönke Neitzel ist Professor an der London School of Economics and Political Science und forscht zu Militärgeschichte.
Krieg ist Gewaltanwendung, Krieg ist Töten. Im Zweiten Weltkrieg sind allein auf deutscher Seite jeden Tag 1000 bis 3000 Soldaten gefallen. Die Gefallenzahlen der Roten Armee waren noch höher. Der Krieg war ein Blutbad, eine Massenschlächterei. An der Ostfront wurden Wehrmachtssoldaten angestachelt:"Seid hart!" Rechtfertigen musste sich nicht, wer Verbrechen und Gewalt beging, sondern wer Weichheit zeigte.
Konnten die Soldaten, die solche Gewalt erlebt hatten, danach wieder ein normales Leben führen?
Ja. Das Leben ging weiter und die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur von traumatisierten Zombies aufgebaut worden. Wir wissen bereits vom Ersten Weltkrieg, dass die Gewalt in der Zivilgesellschaft danach nicht höher war. Es sind nicht alle Leute aus den Schützengräben zurückgekommen und haben, weil sie das jahrelang getan haben, ihre Nachbarn umgebracht. Menschen passen sich sehr schnell an, an den Frieden wie an den Krieg. Rückblickend erinnerten sich die Soldaten nicht nur an Traumata und Horror, an die Nahkämpfe, als sie mit dem Spaten Köpfe abgeschlagen haben, sondern an die lustigen und absurden Geschichten. Genau das hat es ihnen auch ermöglicht, in der Zivilgesellschaft wieder Fuß zu fassen. Der Mensch hat eine erstaunliche Fähigkeit, das Traumatische zu verdrängen.
Hatte denn das Verdrängen große Folgen für die Soldaten und ihre Familien?
Es hatte zunächst zur Folge, dass über den Kern des Krieges - das Kämpfen, Töten und Sterben - in der Familie überhaupt nicht gesprochen wurde. Die klassische Familiengeschichte lautet: "Vater war in Russland, es war hart, er musste während der Gefangenschaft in Sibirien im Bergwerk arbeiten. Punkt." Dass er nicht zum Fischefangen an der Wolga war, wurde nicht weiter reflektiert. Nur im Kameradenkreis sprachen die Soldaten darüber. Natürlich gab es Leute, die in psychologischer Behandlung waren. Und Hunderttausende waren traumatisiert, aus ganz unterschiedlichen Gründen - das müssen nicht nur Gewalterfahrungen, das kann beispielsweise auch der Verlust der Heimat gewesen sein.
Viele Soldaten glauben, im Gegensatz zu den SS-Männern sauber geblieben zu sein. Doch auch wenn sie nicht an Massakern beteiligt waren, kämpften sie in einem mörderischen Krieg, der beispielsweise wie im Fall der Leningrader Blockade bewusst den Hungertod der Bevölkerung in Kauf nahm.
Das war ein Befehl, der von Adolf Hitler kam und den die obersten Wehrmachtgeneräle unterstützten. Aber das war den einfachen Soldaten damals nicht klar. Sie haben eine Stadt belagert, das ist im Krieg ein alter Hut. Nach den Zivilisten haben sie nicht gefragt. Solche Fragen stellen sich Soldaten auch heute nicht. Da geht es darum: Ich muss überleben, ich muss meinen Job ausführen.
Sahen sie nicht die verbrecherischen Momente des Krieges?
Es ist wohl wie in den meisten Kriegen. Um eine positive Selbstwahrnehmung zu haben, sagten die Wehrmachtssoldaten nicht jeden Tag: "Das ist ein verbrecherischer Krieg", sondern vielmehr: "Wir kämpfen gegen den Feind. Der ist böse, wir sind gut." Alles, was nicht diesem Bild entsprach, verdrängten sie. Wer etwa eine Judenerschießung mit ansah oder Gefangene umbrachte, drückte das weg. Im Krieg sieht man nur die eigenen Opfer nach dem Motto "Die haben ja unsere Gefangenen erschossen". So gleichen sich auch die Diskurse über den Krieg in aller Welt. Ob in Frankreich, Deutschland oder Russland - die Veteranen reden ganz ähnlich. Sie sprechen immer nur von ihren Opfern, nicht von ihren Verbrechen.
Der Weltkrieg liegt 70 Jahre zurück. Gibt es etwas, was wir aus dieser Vergangenheit lernen können?
Es ist eine Illusion, an einen guten Krieg zu glauben. Im Krieg geht es immer ums Töten. Und wenn man das nicht akzeptiert, dann sollte man keine Kriege führen.
Mit Sönke Neitzel sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de