Das Parlament, der Brexit und der Zorn Die höchsten Richter sollen es richten
05.12.2016, 09:25 Uhr
The day after: britische Zeitungen am 24. Juni.
(Foto: dpa)
Die Brexit-Wirren in Großbritannien nehmen kein Ende. Nun befassen sich auch die obersten Richter mit der Schicksalsfrage der Nation. Es steht viel auf dem Spiel.
Wie auch immer sie sich entscheiden werden, heftige Kritik ist ihnen sicher. Ab diesem Montag befassen sich Großbritanniens oberste Richter am Supreme Court voraussichtlich vier Tage lang in einem Berufungsverfahren mit einer höchst umstrittenen Frage: Muss das Parlament über den EU-Austritt des Landes mitentscheiden?
Anfang November hatte der High Court genau dies bejaht. Bevor die britische Regierung die Verhandlungen mit der EU über einen Austritt beginne, müsse sie die Zustimmung des Parlaments einholen, so die Richter. Die konservative Regierung zeigte sich daraufhin "enttäuscht", Premierministerin Theresa May ging in Berufung und rief den Supreme Court an. Ihre Regierung habe "starke rechtliche Argumente", hieß es.
Andere Briten reagierten empörter und zeigten einmal mehr, wie sehr der Brexit inzwischen das Vereinigte Königreich spaltet. Die Boulevardzeitung "Daily Mail" nannte die Richter "Volksfeinde", die Klägerin - die Investmentmanagerin Gina Miller - erhielt Vergewaltigungs- und Enthauptungsdrohungen. Außerdem gab es Forderungen, sie in ihr Geburtsland Guayana abzuschieben. Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage, damals noch Ukip-Chef und inzwischen neuer Freund des künftigen US-Präsidenten Donald Trump, witterte gar "Verrat" und drohte mit "öffentlichem Zorn".
Die Angelegenheit ist wie so vieles, was den Brexit betrifft, knifflig. Schließlich hatten die Brexit-Befürworter stets argumentiert, der EU-Austritt sei nötig, damit das britische Parlament wieder mehr Souveränität erhalte. Doch genau diese Souveränität wollen sie den Abgeordneten nun bei der Schicksalsfrage für Großbritannien nicht zugestehen. Sie argumentieren damit, dass das Parlament im vergangenen Jahr mit großer Mehrheit das Brexit-Referendum beschlossen habe. Es sei immer klar gewesen, dass ein Nein zur EU auch den Ausstieg bedeute. Klar war aber auch, dass das Referendum rechtlich nicht bindend war.
Mehrheit im Parlament gegen Brexit
Im Gegensatz zur Regierung sitzen im Parlament mehrheitlich Gegner eines EU-Ausstiegs. Laut einer Umfrage wollen von 650 Parlamentarieren 480 in der EU bleiben. Viele Beobachter erwarten jedoch, dass sich die Abgeordneten grundsätzlich an das Ergebnis der Volksbefragung gebunden fühlen. Sollten sie daher nur über die Frage abstimmen, ob die Regierung die Austrittsverhandlungen beginnen solle, wird die Mehrheit vermutlich dafür stimmen.
Schwieriger wird es, wenn der Supreme Court dem Parlament nicht nur die Entscheidung über ein Ja oder Nein zum Brexit zugesteht, sondern zu dem Schluss gelangt, dass die Abgeordneten auch über die Art und Weise des Ausstiegs mitentscheiden. Denn so gut wie sicher ist: Einem harten Brexit – also einem Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt - würden die Parlamentarier kaum zustimmen.
Genau diese Position, die auch ein Ende der Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeuten würde, scheint allerdings die Haltung von May zu sein. Auf dem Parteitag der Konservativen hatte die Premierministerin Anfang Oktober den Eindruck erweckt, die Teilnahme am Binnenmarkt zugunsten strengerer Einwanderungskontrollen aufgeben zu wollen. Auch ist sie offenbar bereit, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Großbritannien außer Kraft zu setzen.
Konkretere Brexit-Pläne – wenn es sie denn gibt – hat May bislang allerdings nicht vorgelegt. Angeblich will sie ihrer Regierung so eine bessere Verhandlungsposition mit der EU sichern. Bis spätestens Ende März nächsten Jahres sollen die Verhandlungen mit Brüssel nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages starten. Ein Zeitplan, der nun obsolet werden könnte, sollte der Supreme Court in den nächsten Wochen eine Beteiligung des Parlaments beschließen.
Doch selbst wenn der Supreme Court das Parlament bei der Brexit-Entscheidung außen vor lassen würde, droht der Regierung schon neues juristisches Ungemach. Diesmal kommt er von dem Thinktank "British Influence", in dem sich Brexit-Gegner aus verschiedenen Parteien sammeln. Seine Juristen erklären, dass Großbritannien mit einem EU-Austritt noch nicht automatisch aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) austrete. Im EWR gelten rund 80 Prozent der Binnenmarktvorschriften der EU, neben den EU-Staaten gehören ihm auch Norwegen, Island und Liechtenstein an. "British Influence" fordert nun, dass die Regierung auch über Artikel 127 des EWR-Vertrags abstimmt, der den Ausstieg aus der Freihandelszone regelt.
Es geht also weiter. Und bei allen Ungewissheiten, in die das Brexit-Referendum Großbritannien und Europa gestürzt hat, scheint eines gewiss: Bei einem EU-Austritt gibt es etliche juristische Fallstricke, die Juristen im Königreich werden künftig noch viel zu tun haben.
Quelle: ntv.de