Falls die Waffen schweigen Diese sechs Szenarien gibt es für die Zukunft der Ukraine
26.10.2025, 08:51 Uhr
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Die Ukraine träumt von der vollen Souveränität - muss sich aber wohl irgendwann auf einen Deal mit den USA und Russland einlassen.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Während US-Präsident Trump sich am russischen Amtskollegen die Zähne ausbeißt, schmiedet Brüssel mit Kiew wohl einen Plan für ein Kriegsende. Aber welche Perspektiven würde es nach einer Waffenruhe geben? Ein ukrainischer Experte sieht sechs mögliche Zukunftsszenarien für sein Land.
Mit Wladimir Putin ist so schnell kein Frieden zu machen. Das erkennt auch Donald Trump. "Jedes Mal, wenn ich mit Wladimir spreche, habe ich gute Gespräche, aber dann führen sie nirgendwo hin", sagte der US-Präsident. Putin spielt auf Zeit, um seinen brutalen Angriffskrieg fortzuführen. Das Ziel des russischen Präsidenten bleibt die Auslöschung der Ukraine. "Bitten Sie Putin nicht um Frieden, denn der Frieden wäre sein Grab", sagt der ukrainische Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko im Gespräch mit ntv.de und weiteren europäischen Medien in Kiew. Putins Regime brauche den Krieg für sein Fortbestehen. Nur falls Russland einen demokratischen Weg einschlage, gebe es einen stabilen Frieden für die Ukraine.
Wird Putins Sturz aber kommen? Und falls ja, wann? Prognosen haben so ihre Tücken. Die Zukunft von Putins Regime ist ebenso ungewiss wie diejenige der Ukraine. Es gibt aber Modelle, um verschiedene Szenarien zu entwerfen. Valerii Pekkar legt sich auf sechs mögliche Zukunftsszenarien für die Ukraine nach dem Ende der russischen Invasion fest. Er ist Vorstandvorsitzender der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Decolonization und außerordentlicher Professor an der Kyiv-Mohyla Business School sowie der Business School der Ukrainischen Katholischen Universität.
"Ich nutze die Foresight-Methodik, die auch in der Europäischen Union beliebt ist, um die Wahrscheinlichkeit von Prognosen zu errechnen", sagt Pekkar während eines Treffens mit ntv.de in Kiew. Pekkars Prognosen beschreiben nicht detailliert, was sich jeweils genau ereignen würde. Vielmehr sind die sechs Szenarien idealtypische Rahmenhandlungen, innerhalb derer sich wiederum verschiedene Abläufe denken lassen.
Vom "Traum" der vollen Souveränität bis hin zum "Land des Terrors"
Sowohl für die Ukraine als auch für die mit ihr verbündete EU sei zuvorderst entscheidend, ob weiterhin die Rechtsstaatlichkeit gelte oder aber das Recht des Stärkeren. "Da Europa in der Welt der Herrschaft der Gewalt nicht überleben kann, ist die Rechtsstaatlichkeit für die Europäische Union extrem wichtig", sagt Pekkar. Die US-Regierung setze hingegen zunehmend auf das Recht des Stärkeren, wie Vize-Präsident JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz verdeutlicht habe. Die erste Frage sei, ob die EU es schaffe, auf ihre Rechtsstaatlichkeit zu beharren und damit die Politik der USA auszugleichen. Die zweite wichtige Frage sei, ob es der Ukraine gelinge, einen souveränen Staat zu bewahren.
Falls Europa seine Rechtsstaatlichkeit bewahrt, sieht Pekkar diese drei möglichen Szenarien:
- Rechtsstaatlichkeit und volle Souveränität: Das wäre der "Traum" für die Ukrainer und würde einen nachhaltigen Frieden bedeuten.
- Rechtsstaatlichkeit und eingeschränkte Souveränität: Ein "fauler Deal", durch den die USA der ukrainischen Souveränität Grenzen auferlegen. Durch ihr Beharren auf Rechtsstaatlichkeit kann die EU die USA jedoch von einem langfristig geltenden Abkommen überzeugen. Akzeptabel für die Ukraine wäre etwa ein Deal ohne Nato-Beitritt, aber mit Sicherheitsgarantien. Inakzeptabel wäre eine Abmachung, durch die sie gezwungen würde, ihre Armee zu verkleinern.
- Rechtsstaatlichkeit ohne Souveränität: Pekkar zieht als Beispiel die Situation der Ukraine zwischen 1917 und 1921 heran. Der Anspruch der ab 1917 gegründeten Ukrainischen Volksrepublik (UNR) war anfangs sowohl demokratisch als auch rechtsstaatlich. Die UNR wurde aber nicht als souveräner Staat anerkannt und war durch militärische Konflikte zeitweise kaum handlungsfähig. Ab 1918 wurde die Ukraine durch die deutsche und österreich-ungarische Armeen besetzt. Anschließend tobte ein Kampf zwischen Bolschewisten und Anti-Bolschewisten weiter, wobei verschiedene europäische Staaten intervenierten.
Falls sich das Recht des Stärkeren in der Weltpolitik durchsetzt, sieht Pekkar diese drei möglichen Szenarien:
- Recht des Stärkeren und volle Souveränität: Alle internationalen Vereinbarungen gelten nicht mehr. Die Ukraine kann ihre Souveränität bewahren, aber nur durch "viel Blut und Leid". Dabei helfen ihr die Schwäche der russischen Wirtschaft, eine Koalition der Willigen aus Europa und ihre Innovationskraft.
- Recht des Stärkeren und eingeschränkte Souveränität: Die Ukraine muss für ihre Sicherheitsgarantien ein Abkommen unterschreiben - in einer Welt, in der Vereinbarungen nichts mehr bedeuten. Diese Situation ist äußerst instabil und wird voraussichtlich nicht lange andauern. Im nächsten Schritt tritt eines der anderen Zukunftsszenarien ein.
- Recht des Stärkeren ohne Souveränität: Die Ukraine wird zum "Land des Terrors". Es gibt keinen Staat mehr, Anarchie und Gewalt herrschen.
Das zweite Szenario ist laut Pekkar das wahrscheinlichste - also Rechtsstaatlichkeit und eingeschränkte Souveränität. "Die Europäische Union sollte alles in ihrer Macht Stehende tun, die USA davon zu überzeugen, dass Vereinbarungen, Werte und Bündnisse weiterhin wichtig sind", so Pekkar. Einem Medienbericht von Bloomberg zufolge bastelt die EU bereits mit der Ukraine an einem Zwölf-Punkte-Plan für die Beendigung des Krieges.
Juschtschenko kritisiert Trumps Russland-Diplomatie
Die Grenze zwischen der russischen und der ukrainischen Sphäre soll demnach entlang der aktuellen Frontlinien eingefroren werden. Die Ukraine würde anschließend Sicherheitsgarantien, Gelder für den Wiederaufbau und die Zusage eines raschen Aufnahmeverfahrens in die EU erhalten. Voraussetzung sei, dass Russland wie die Ukraine einer Waffenruhe zustimme und beide Seiten sich verpflichteten, keine weiteren Gebietsgewinne anzustreben. Dann sei die Rückkehr aller deportierten Kinder in die Ukraine und der Austausch von Gefangenen vorgesehen, hieß es weiter. Die beiden Länder würden anschließend Verhandlungen über die Verwaltung der besetzten Gebiete aufnehmen. Weder Europa noch die Ukraine würden jedoch besetztes Land rechtlich als russisch anerkennen.
Ob sich Putin auf die Vorschläge einlässt? Noch setzt er auf einen militärischen Sieg. Am Ende hängt die Zukunft der Ukraine auch davon ab, inwieweit Moskaus Truppen mit ihrer Invasion Erfolg haben. Pekkar stimmt mit Juschtschenko überein: Russland dürfe seine strategischen Ziele nicht erreichen, denn Putins Regime stehe einem nachhaltigen Frieden im Weg. Juschtschenko kritisiert deshalb Trumps Ansatz, Putin mit diplomatischen Charmeoffensiven zu begegnen. Putin sei ein "Superkiller", dennoch schüttelten ihm andere Staatschefs die Hand. Das sei der falsche Weg.
Die Reise nach Kiew erfolgte auf Einladung der Nichtregierungsorganisation Your City Media Hub/Untold Stories from Ukraine mit Sitz in Lwiw.
Quelle: ntv.de, mit rts