Modus Operandi ändert sich Europol rechnet mit neuen IS-Anschlägen
02.12.2016, 08:22 Uhr
Der IS gerät zunehmend unter Druck, das Risiko für Anschläge in Westeuropa steigt. Europol warnt, die nächste Attacke stehe kurz bevor, die Attentäter seien schon in Europa. Deren Anschläge könnten nach neuen Mustern ablaufen.
Im Norden Iraks droht die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) seine größte Hochburg zu verlieren. In Mossul, einer Metropole mit einst über zwei Millionen Einwohnern, rief IS-Führer Al-Baghdadi 2014 das "Kalifat" aus. Nun ist die Stadt von der irakischen Armee und Peschmerga-Kämpfern umzingelt. Beobachter rechnen damit, dass Mossul innerhalb der kommenden Monate eingenommen wird. Die Verbindung zur zweiten wichtigen Hochburg des IS, Rakka in Syrien, wurde vergangene Woche gekappt. Ebenso die Verbindung von Rakka an die türkische Grenze, der wichtigste Nachschubkorridor für Kämpfer und Material und vermutlich die Haupt-Absatzroute für Öl, das im Herrschaftsbereich des IS gefördert und über die Türkei gewinnbringend dem Weltmarkt zugeführt wurde. Türken, Kurden, Russen, die syrische Armee und der Westen verfolgen indes bereits Pläne, Rakka in naher Zukunft zu erstürmen. Das Kalifat stirbt. Die Sicherheitslage in Westeuropa verschlechtert sich dadurch deutlich.
Die europäische Polizeibehörde Europol rechnet damit, dass die Anschlagsgefahr in Europa analog mit dem steigenden Druck auf die Gebiete des IS zunimmt. Viele Kämpfer und ihre Familien würden in ihre westeuropäischen Heimatländer zurückkehren, seien stark radikalisiert und motiviert, Anschläge zu verüben. Die These an sich ist nicht neu. Neu sind allerdings Erkenntnisse darüber, wie Anschläge der Terrormiliz in Westeuropa in Zukunft aussehen könnten. Passenderweise trägt der Bericht, den Europol zu der Thematik veröffentlicht hat, "Die Veränderungen des Modus Operandi des Islamischen Staates". Auch über den Zeitpunkt der nächsten Attacken hat die Behörde Informationen. Demnach steht der nächste Anschlag kurz bevor. "Weitere Anschläge in der EU, sowohl von Einzeltätern als auch Gruppen, werden wahrscheinlich in der nahen Zukunft stattfinden", heißt es in dem Bericht.
Autobomben in Westeuropa?
Mehrere Dutzend Attentäter könnten nach Einschätzung von Europol bereits in westeuropäische Staaten eingedrungen seien, die Pläne für neue Anschläge haben demnach wahrscheinlich schon die Umsetzungsreife erreicht. Das wahrscheinlichste Szenario sei dabei ein Angriff im Stil bereits vergangener Anschläge. Das heißt: Ein Angriff eines Hit-Teams mit schwerer Bewaffnung wie bei den Anschlägen in Paris 2015, ein großer Sprengstoffanschlag wie beim Anschlag auf den Brüsseler Flughafen, oder "Lone-Wolf"-Attacken wie in Nizza, Würzburg oder Ansbach. Innerhalb des IS seien alle diese Anschläge, vor allem aber die Angriffe in Paris, Brüssel und Nizza, als große Erfolge verbucht worden. Daher sei es am wahrscheinlichsten, dass die Extremisten erneut auf diese "Erfolgsformel" setzen würden, heißt es in dem Bericht.
Allerdings macht Europol auch neue Trends aus: So werde die Anzahl der "Lone-Wolf"-Attacken ebenso zunehmen wie deren Maßstab. Das heißt, mehr Einzelattentäter werden größere Anschläge verüben. Auch wenn die Logistik und die Planung von Anschlägen in Paris und Brüssel aus Sicht des IS unkompliziert und günstig gewesen sei, seien die schlanken Strukturen bei einem Anschlag eines Einzeltäters vorteilhaft gegenüber Angriffen größerer Gruppen. Auch die Wahl der Waffen könne sich in Zukunft verändern. Europol rechnet etwa damit, dass der IS in Europa künftig auch Autobomben einsetzen könne. Methoden also, die bisher eher in den Kriegs- und Krisengebieten des Mittleren und Nahen Ostens zur Anwendung kommen.
Auch bei den Zielen gebe es Veränderungen. Aus einer Vielzahl von Gründen bleibe Frankreich das Top-Ziel der Extremisten. Das Land habe unter allen Staaten Westeuropas nach wie vor den höchsten Symbolwert für die westliche Kultur. Schlüsselkonzepte wie "Demokratie", "Menschenrechte" oder "Trennung von Kirche und Staat" sind Errungenschaften Frankreichs. Alle diese Konzepte lehnt der IS strikt ab. Hinzu komme die vielerorts blutige Kolonialgeschichte Frankreichs in arabischen Staaten, die "Ghettoisierung" junger Araber in französischen Vorstädten, die hohe Anzahl französischer Dschihadisten in Syrien und nicht zuletzt das Engagement des Landes bei Luftangriffen auf den IS.
Deutschland rückt ins Fadenkreuz
Deutschland sei auf der Liste möglicher Ziele nach oben gerückt, so Europol. Eine Schlüsselstrategie der Extremisten ist stets die Erzeugung eines großen Konflikts zwischen dem Westen und dem Islam. Und so verwundert es nicht, dass der IS darauf abziele, in Deutschland syrische Flüchtlinge als Gesamtgruppe zu kompromittieren. Anschläge in Deutschland könnten also nicht nur das Ziel verfolgen, möglichst viele Menschenleben zu beenden, sondern auch Flüchtlinge als Gruppe bloßzustellen und einen Konflikt innerhalb der deutschen Gesellschaft zu erzeugen. Neben Frankreich und Deutschland sei besonders in Belgien, den Niederlanden und Großbritannien mit Anschlägen zu rechnen.
Auch die möglichen Täterprofile würden sich verändern, so Europol. Für "Lone-Wolf"-Attacken sei keine so anspruchsvolle militärische Ausbildung nötig, wie das etwa für Angriffe eines Hit-Teams der Fall sei. Künftige Anschläge in Westeuropa müssten also nicht von den hochqualifiziertesten Kämpfern der Terrormiliz ausgeführt werden. Ihre Anzahl sei ohnehin sinkend und die Trainings- und Ausbildungsmöglichkeiten in Syrien und im Irak seien deutlich gesunken.
Besonders schwer auszumachende Täter, die sich selbst radikalisiert hätten, seien prädestiniert für "Lone-Wolf"-Anschläge. Besonders religiös müssten die Täter dabei gar nicht sein. Es gebe ausreichend Beispiele für 16- oder 17-Jährige, die ein Dasein als Dschihadist anstrebten, ohne je den Koran gelesen zu haben. Aus Sicht des IS sei es sogar deutlich vorteilhafter Menschen mit einem nur fragmentierten und subjektiven Wissen über den Koran als Täter anzusetzen. Neben Faktoren wie Identitätsproblemen, Arbeitslosigkeit, mangelnder Ausbildung und Minderwertigkeitskomplexen sei eine unausreichende Kenntnis der Religion ein entscheidender Faktor dafür, im Namen einer Religion zu töten.
Quelle: ntv.de