Neue Kämpfe belasten Beziehungen In Syrien hat Erdogan die besseren Karten - und lässt Putin zappeln
05.12.2024, 18:53 Uhr Artikel anhören
Erdogan und Putin - hier bei einem BRICS-Gipfel im Oktober - haben in Syrien ganz unterschiedliche Interessen.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Islamisten überrennen Aleppo, nehmen Hama ein, für Syriens Machthaber Assad wird es eng. Der türkische Präsident Erdogan gibt dafür grünes Licht - und bringt auch Assad-Freund Putin in arge Bedrängnis. Das zeigt, wer hier jetzt das Sagen hat.
Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Wahre Freundschaft ist es wohl nicht, die Russlands Machthaber Wladimir Putin und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verbindet. Das russisch-türkische Verhältnis ist viel eher vom gemeinsamen Machtstreben geprägt. Der eine will Russlands Großmachtstatus beweisen, der andere den Einfluss der Türkei im Nahen Osten und darüber hinaus zementieren.
Zudem sehen sich beide als Gegengewichte zum Westen, vor allem zu den USA - Russland weit mehr als das NATO-Mitglied Türkei. Den Überfall auf die Ukraine hat Ankara zwar verurteilt, es beteiligt sich aber nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland. Vielmehr können die Handelsbeschränkungen mithilfe der Türkei umschifft werden. Entsprechend wichtig ist Erdogan für Putin. Beide Länder wollen die Wirtschaftsbeziehungen sogar noch ausbauen. Und Erdogan strebt eine Mitgliedschaft im BRICS-Bündnis um Russland und China an.
Das führt zu einem so pragmatischen wie regelmäßigen Austausch beider Seiten. "Die Türkei und Russland haben einen ausgebauten und gut funktionierenden Dialog zu allen für beide Länder wichtigen Fragekomplexen", sagt der Experte Zaur Gasimov, der an der Universität Mainz lehrt, ntv.de. Er spricht von einer "sehr intensiven Interaktion auf vielen Ebenen".
Das gilt auch für Themen, bei denen sich die jeweiligen Machtinteressen in die Quere kommen. Dazu gehören der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, die Machtverhältnisse im Schwarzen Meer oder die Lage in Syrien. 2015 überzogen sich beide Länder nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei noch mit wüsten Beschimpfungen, Drohungen und Sanktionen. Heute pflegen beide Seite ihre Beziehung. Laut Gasimov führen verschiedene Zielsetzungen und häufig unterschiedliche Vorstellungen "interessanterweise nicht zur Verschlechterung, sondern zur Intensivierung der Beziehungen".
"Die zentrale Macht hier ist die Türkei"
Doch bleibt das auch so angesichts der aufflammenden Kämpfe in Syrien? Hier prallen die Interessen beider Länder direkt aufeinander. Russland ist die Schutzmacht des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der nach Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 in arge Bedrängnis geriet. Ohne die Waffenhilfe aus Moskau ab 2015, vor allem in Form von Luftangriffen, wäre Assad nicht mehr im Amt. Putin hat damit vor den machtlosen Augen des Westens ein Zeichen gesetzt und sich Einfluss im Nahen Osten sowie eine globale Großmachtrolle gesichert. Zudem erhielt Russland den Marinestützpunkt in Tartus, der den Zugang zum Mittelmeer sichert, sowie den Luftwaffenstützpunkt Hmeimim, der als Drehkreuz für Truppen und Söldner auf dem Weg nach Afrika dient.
Erdogan hat andere Interessen in Syrien. Lange forderte er ganz offen den Sturz Assads. Doch im Vordergrund steht die Eindämmung der von Kurden kontrollierten Gebiete in Syrien. Die kurdische YPG ist mit der PKK verbunden, die in der Türkei, aber auch der EU als Terrorgruppe eingestuft wird. Erdogan will verhindern, dass beide Gruppen ein zusammenhängendes kurdisches Gebiet etablieren, das Begehrlichkeiten auch bei den Kurden im eigenen Land wecken könnte. Mehrfach haben türkische Truppen deshalb direkt in den Konflikt in Syrien eingegriffen und mit Hilfe verbündeter Milizen Pufferzonen errichtet. Die islamistischen Milizen, die nun die Offensive führen, unterstützt Erdogan eher indirekt: Sie versorgen sich über türkisches Gebiet, ihre Aktivitäten sind deshalb von Erdogans Zustimmung abhängig.
Doch Erdogan hat noch ein anderes Ziel: "Stark ist das Interesse der Türkei, in Syrien Stabilität zu erzielen, denn die Türkei übernahm in der vergangenen Dekade mehr als vier Millionen syrischer Flüchtlinge", sagt Gasimov. Instabilität in Syrien oder kriegerische Auseinandersetzungen können laut dem Experten zu weiteren Flüchtlingswellen in Richtung Türkei führen. Außerdem verweist er auf wiederholte Angriffe auf das türkische Staatsgebiet von Seiten kurdischer Milizen, die im Norden Syriens agieren.
Doch wenn er Ruhe will - warum hat Erdogan dann die Offensive der Islamisten zugelassen? Er wusste schließlich im Vorfeld davon und gab bewusst grünes Licht. "Die zentrale Macht hier ist die Türkei", sagte dazu der Nahost-Experte Daniel Gerlach kürzlich dem ZDF. Ankara habe in den vergangenen Monaten eine Bereitschaft gezeigt, wieder mit Assad ins Geschäft zu kommen. Dieser habe das unklugerweise ziemlich arrogant behandelt. Das habe sich Erdogan nicht gefallen lassen, so Gerlach. Erdogan wolle Assad zeigen, "wenn du mit mir normalisieren willst, dann musst du auf mich zukommen, denn sonst kann ich dir empfindlichen Schaden zufügen".
Assads Verbündete sind geschwächt
Während Erdogan die Offensive unterstützt, passt sie Putin gar nicht. In den vergangenen Jahren blieb der Bürgerkrieg in Syrien vergleichsweise ruhig, Assad konnte seine Machtposition stabilisieren. Nun gerät der Staatschef erneut in Bedrängnis - und Putin steht vor einem außenpolitischen Debakel. Von einem "Schlag für Russlands Reputation" spricht die Russlands-Expertin Hanna Notte gegenüber dem "Spiegel". Gerade die neuerliche Eroberung Aleppos kratzt am Image der russischen Stärke in Syrien. Denn es waren Putins Truppen, die 2016 die Einnahme der jahrelang umkämpften Großstadt ermöglichten.
Aufgrund des Kriegs in der Ukraine kann Putin diesmal Assad nicht so einfach zur Seite springen. Die russische Präsenz in Syrien wurde nach dem Überfall auf das Nachbarland 2022 immer weiter reduziert. Die Entsendung neuer Truppen wird kaum möglich sein, weil das die Kampfkraft in der Ukraine schwächen würde und Russland ohnehin Probleme hat, die hohen Verluste dort auszugleichen. Söldner wie etwa die stark dezimierte Gruppe Wagner, die einst in Syrien kämpfte, sind ebenfalls in der Ukraine oder in Afrika im Einsatz - und dürften dort auch nicht entbehrlich sein. Hilfe könnte vom Iran kommen. Doch das Land und seine verbündeten schiitischen Milizen wie die Hisbollah sind aufgrund des Kriegs gegen Israel geschwächt. Ein Einsatz in Syrien könnte zudem US-amerikanische oder israelische Reaktionen nach sich ziehen.
Den syrischen Milizen und Erdogan sind diese Umstände sehr wohl bewusst. Sie haben diese geänderten Machtverhältnisse ausgenutzt. "Das Geschehen in Syrien zeigt aktuelle Dynamiken, vor allem die Schwächung Russlands und des Irans", sagt Gasimov. Die Position der Türkei sei im Gegensatz zu anderen regionalen Playern stark. Das Land "hat definitiv an politischem Gewicht gewonnen, was der russischen Diplomatie bewusst ist", sagt der Experte und fügt an: "Russland handelt im Rahmen des Machbaren ähnlich wie die Türkei."
"Eine Einigung wird es mit Sicherheit geben"
Das wurde bei einem Telefonat Erdogans mit Putin deutlich. Laut Kreml forderte darin Putin den türkischen Staatschef auf, zur Wiederherstellung der Stabilität im Bürgerkriegsland Syrien beizutragen. Ankara müsse seinen Einfluss in der Region nutzen, um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen, sagte der Kremlchef. Dagegen hieß es von türkischer Seite, man arbeite an einer gerechten und dauerhaften Lösung. "Präsident Erdogan hob hervor, wie wichtig es ist, der Diplomatie in der Region mehr Raum zu geben, und betonte, dass sich das syrische Regime am politischen Lösungsprozess beteiligen sollte."
Dass Putin mit einer Bitte an Erdogan herantritt, offenbart die veränderten Machtverhältnisse. Und auch die unterschiedlichen Sichtweisen werden deutlich: Russland will das System Assad unbedingt schützen, Erdogan fordert dagegen Kompromissbereitschaft vom syrischen Präsidenten - also Zugeständnisse.
Doch sind die Meinungsverschiedenheiten so stark, dass sie die guten Beziehungen zwischen Moskau und Ankara beeinträchtigen könnten? Gasimov verneint das: "Der Türkei geht es darum, die Grenze sowie das türkische wie auch das syrische Grenzland zu sicheren Zonen zu entwickeln und die Zusammenarbeit von PKK und YPG zu verhindern", erklärt er. "Diese Aspekte sind für Russland nicht von primärer Signifikanz, jedoch ist es bereit zu verhandeln." Eine Einigung zwischen Moskau und Ankara werde es mit Sicherheit geben, führt Gasimov aus. So sieht das auch Expertin Notte: "Es ist nicht das erste Mal, dass es ein Gegeneinander der beiden Staaten in Syrien gibt", sagte sie dem "Spiegel". Beide Länder hätten Erfahrungen darin, ihre Konflikte zu regeln - nicht nur in Syrien.
Gelegenheit zu einer Vereinbarung gibt es bereits an diesem Wochenende: Dann wollen sich in Doha die Außenminister des Irans, der Türkei und Russlands treffen und über die Lage in Syrien sprechen. Diese "Astana-Konstellation", die es seit 2017 gibt, will zwischen syrischer Regierung und den von der Türkei unterstützten Rebellen vermitteln. Erfolge hat dieses Format bisher allerdings kaum verzeichnet. Der Beziehungsstatus bleibt kompliziert.
Quelle: ntv.de