Historiker warnt vor Eskalation "Putin hat nicht mehr so viel Zeit"
21.03.2024, 13:24 Uhr Artikel anhören
In seiner "möglicherweise letzten Amtszeit" werde Putin noch radikaler und gefährlicher, sagt Historiker Friedman im ntv.de-Interview.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Auch wenn die Wahl in Russland gefälscht wurde, zweifelt niemand daran, dass die Mehrheit der Bevölkerung Wladimir Putin und seine Kriegspolitik unterstützt. Der Kremlchef hätte auch eine demokratisch abgehaltene Wahl gewonnen, ist sich der Historiker Alexander Friedman sicher. In der neuen Amtszeit werde der "erbitterte" Putin noch gefährlicher und radikaler, prognostiziert der Osteuropa-Experte. Eine Eskalation des Konflikts mit dem Westen schließt Friedman nicht aus - und zieht historische Parallelen zum Ersten Weltkrieg.
ntv.de: Wie beurteilen Sie die Ergebnisse der Wahlen? Sind sie überraschend?
Alexander Friedman: Es wird viel über Wahlfälschungen gesprochen. Die Rede ist von möglicherweise 20 Millionen oder sogar mehr als 30 Millionen Wahlzetteln, die gefälscht wurden. Aber Putin hat diese Wahlen sicherlich gewonnen, wenn man das, was da veranstaltet wurde, überhaupt als Wahlen bezeichnen kann. Er hat deutlich mehr Stimmen bekommen als seine Rivalen - möglicherweise über 50 Prozent, vielleicht auch über 60 Prozent. Aber dieses Ergebnis von 87 Prozent, das ist sicherlich ein Witz.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Hätte Putin auch gewonnen, wenn ein Anti-Kriegs-Kandidat zur Wahl zugelassen gewesen wäre?
Ich glaube ja. Ich würde beinahe sagen, Putin hätte unter den aktuellen Umständen eine demokratische Wahl abhalten können. Und er hätte sie, zwar mit Anstrengung und nicht so locker, trotzdem gewonnen.
Warum gab es dann keine demokratische Wahl?
Putins Sieg wäre dann nicht so eindeutig. Ein anderer Kandidat oder eine andere Kandidatin hätte möglicherweise 10, 15 oder sogar 20 Prozent der Stimmen bekommen. Und das will die russische Führung auf keinen Fall. Deshalb wurden Anti-Kriegs-Kandidaten wie Ekaterina Duntsowa oder Boris Nadeschdin nicht zugelassen.
Und der wichtigste Oppositionspolitiker starb wenige Wochen vor der Wahl hinter Gittern.
Ich glaube, für die Regierung war es wichtig, mit dem Ergebnis zu zeigen, dass Nawalny und sein Tod diese Wahlen gar nicht beeinflusst hat. Diese 87 Prozent sind eine Botschaft: Wir haben sogar Nawalny, das Gesicht der Opposition, ausgeschaltet. Und trotzdem feiern wir ein spektakuläres Ergebnis. Wir können alles machen, was wir wollen.
Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis dieser Wahl?
Spätestens nach dieser Wahl kann man nicht mehr sagen, dass die Kriegspolitik allein auf Putin und sein Umfeld zurückzuführen ist. Putin hat sich als ein Kriegskandidat positioniert, der Krieg stand im Mittelpunkt seines Wahlkampfes. Und es waren trotz Fälschungen Dutzende Millionen von Russinnen und Russen, die ihre Stimmen für Putin abgegeben haben und damit auch eine moralische Mitverantwortung für Putins Politik tragen.
Niemand zweifelt daran, dass die Mehrheit für Putin gestimmt hat. Der Begriff "Putins Krieg", den Bundeskanzler Scholz zu Beginn des Krieges geprägt hatte, war schon damals ein klares Wunschbild der deutschen Politik. Man hat Protestaktionen in Russland gesehen und gehofft, dass die meisten Russen vielleicht doch gegen den Krieg sind. Aber die meisten Russen unterstützen diesen brutalen Krieg, der seit mehr als zwei Jahren andauert. In dieser Zeit hat man schon einiges über den Krieg erfahren, auch in Russland.
Oft heißt es ja, Propaganda sei daran schuld, dass die Russen nicht wissen, was in der Ukraine vor sich geht.
Wenn Menschen sich informieren wollen, können sie dies tun. Ja, viele sind Opfer von Staatspropaganda, aber Russland von heute ist nicht mit dem Dritten Reich oder der stalinistischen Sowjetunion zu vergleichen, nicht einmal mit dem heutigen China. Die Menschen haben nach wie vor Zugang zu Informationen. Sie haben Telegram, Youtube, sie haben Zugang zu alternativen Informationsquellen. Ich lasse diese Ausrede deshalb nicht gelten. Sie können sich informieren, sie können erfahren, was in der Ukraine passiert. Und viele ahnen wohl, was für schlimme Sachen dort tatsächlich passieren. Und trotzdem haben Dutzende Millionen von Menschen Putin gewählt. Putin, der für diese Politik verantwortlich ist, Putin, der als Kriegsverbrecher gilt und gegen den ein Haftbefehl vorliegt. Und das ist leider eine bittere Tatsache. Seine Politik und somit auch der Krieg gegen die Ukraine wird von der Mehrheit unterstützt oder zumindest gebilligt.
Ist jetzt eine weitere Eskalation des Ukraine-Kriegs zu erwarten?
Putin ist ein rachsüchtiger Mensch, aber dank seiner KGB-Prägung kann er seine Gefühle und Emotionen gut kontrollieren – um erst im Nachhinein brutal zuzuschlagen. Die letzte Woche war für den Kreml kompliziert. Vieles spricht dafür, dass die Angriffe von sogenannten russischen Freiwilligen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen, deutlich erfolgreicher waren, als die russische Seite es darstellt. Außerdem gab es mehrere ukrainische Angriffe auf Öl-Raffinerien. Auch die sollen den Russen erhebliche Schäden hinzugefügt haben. Und jetzt ist die russische Seite ja gefordert, darauf zu antworten. In der Wahlwoche wollte Putin von seinem Triumph nicht ablenken. Jetzt aber wird er wohl einiges unternehmen. Die Stimmung in der Propaganda ist in den letzten Tagen noch rauer und aggressiver geworden. Von daher sind jetzt Versuche von spektakulären Angriffen oder Operationen durchaus zu erwarten.
Die Opposition hatte zur Protestaktion "Mittag gegen Putin" aufgerufen. Im Ausland haben vor russischen Botschaften viele Menschen protestiert. In Russland dagegen eher wenig. Hat das nur mit der Angst zu tun, oder gibt es auch andere Gründe?
Wahrscheinlich haben manche Menschen in Russland den Sinn und Zweck dieser Aktion nicht durchschaut. Gerade unter Putin-Gegnern war es eine umstrittene Frage, ob man hingehen soll. Und wenn ja, wen soll man wählen? Ich glaube, viele Menschen, die nicht für Putin sind, sind am Wahltag einfach zu Hause geblieben.
Zwei Tage nach der Wahl hat Putin seinen Geheimdienst FSB zur Jagd auf "Verräter" aufgerufen. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Repressionen jetzt erst richtig losgehen?
Das Regime wird höchstwahrscheinlich noch brutaler, noch repressiver und noch aggressiver als zuvor. Bei Putin gibt es eine klare Dynamik. Mit jeder Amtszeit gibt es weniger Freiheit und Demokratie in Russland, dafür mehr Repressionen.
Viele befürchten eine neue Mobilisierungswelle.
Ich bin nicht unbedingt der Meinung, dass Putin jetzt gleich mit einer neuen Mobilmachung oder mit Säuberungen beginnt. Das ist nicht sein Stil. Er wendet Gewalt an, aber erst dann, wenn er seinen Willen mit anderen Methoden nicht durchsetzen kann. Aber Gewalt, Krieg, Repressionen gehören selbstverständlich zu seinem politischen Repertoire. Und dass er das alles in seiner neuen Amtszeit anwenden wird, ist sehr wahrscheinlich. Die Tendenz geht in diese Richtung. Der Frieden in der Welt wird von Russland unter Putin jetzt noch mehr gefordert und eine qualitative Steigerung bis hin zu einem direkten Konflikt mit dem Westen ist zumindest nicht auszuschließen.
Wird Putin für den Westen noch gefährlicher?
Dieser neue, erbitterte Putin, der immer radikaler wird, gegen den ein Haftbefehl besteht und der offen als Feind vom Westen wahrgenommen wird, so ein Putin ist besonders gefährlich. Er muss auch aufgrund seines Alters damit rechnen, dass es möglicherweise seine letzte Amtszeit ist und er nun tatsächlich nicht so viel Zeit hat, um seine Ziele zu erreichen: Nämlich die Fehler von 1989/1991 – der Zerfall der Sowjetunion war ja aus seiner Sicht ein Fehler - zu korrigieren, Russland wieder zu einer Großmacht zu etablieren. Um Einflusszonen in Europa zu erobern, hat er wohl nicht mehr so viel Zeit. Und das kann nur zur Radikalisierung seiner Politik führen.
Das ist ein düsteres Bild. Putin genießt die Unterstützung der Bevölkerung, ihm ist alles egal und er ist alt, hat also nichts zu verlieren. Kann man von ihm erwarten, dass er, bevor er stirbt, einen Atomkrieg auslöst?
Ich würde sagen, wir müssen damit rechnen. Wir sollten darauf hoffen, dass das nicht passiert - dieses Szenario ist ja überhaupt nicht selbstverständlich -, die Gefahr jedoch mitberücksichtigen. Ich glaube aber, sein Kalkül ist nach wie vor ein anderes. Er hält den Westen für schwach, für viel zu dekadent. Und er ist überzeugt, dass er mit seinen Drohungen seine Ziele erreicht, ohne einen Weltkrieg führen zu müssen. Wenn Putin sagt, dass er nicht vorhat, einen Weltkrieg zu beginnen, dann bin ich ausnahmsweise bereit, ihm zu glauben. Er weiß, was ein Weltkrieg bedeutet, welche Konsequenzen er haben könnte. Er spielt bewusst mit diesen Ängsten in der Hoffnung, dass der Westen nachgibt und seine Forderungen erfüllt. Das ist, glaube ich, genau die Linie, die er jetzt verfolgt.
Wenn er das nicht vorhat, dann sieht es doch gut aus für den Westen, oder?
Aus der Geschichte wissen wir: Wenn man, wie Putin, mit solchen gefährlichen Sachen spielt, kann man einen Krieg auslösen, auch wenn man das nicht unbedingt vorhat. Ich denke in diesem Zusammenhang an den Ersten Weltkrieg und die brillante Metapher des australischen Historikers Christopher Clark, der die damaligen Großmächte in seinem gleichnamigen Buch als "Schlafwandler" bezeichnete. Lange dachten sie, sie können über dem Abgrund balancieren; sie waren sich sicher, dass die Spannungen unter Kontrolle sind und der Konflikt nicht eskalieren wird. Doch dann brach die Balance plötzlich zusammen, das Ergebnis war der verheerende Erste Weltkrieg.
Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou
Quelle: ntv.de