Politik

Reisners Blick auf die Front "Russland hat auf allen Ebenen der Kriegsführung eskaliert"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Unbenannt.jpg

Es sei gut möglich, dass russische Sabotage hinter dem Absturz eines DHL-Frachtflugzeugs über Litauen steckt, sagt Oberst Markus Reisner. Moskau reagiere jetzt generell mit neuen Eskalationsstufen auf den ukrainischen Einsatz weitreichender Waffen aus dem Westen.

ntv.de: Ein DHL-Frachtflugzeug ist am Morgen in der Nähe des Flughafens der litauischen Hauptstadt Vilnius abgestürzt. Die Polizei geht bisher von einem technischen Fehler oder menschlichem Versagen aus, schließt aber auch einen Terrorakt nicht aus. Könnte es sich um russische Sabotage handeln?

Markus Reisner: Dieser Verdacht ist durchaus schlüssig, weil es in der Vergangenheit einige Fälle gab, wo man nachweisen konnte, dass Pakete, die für die Luftfracht bestimmt waren, sich entzündet haben und man eine Maßnahme der hybriden Kriegsführung Russlands erkennen konnte. Das teilte unter anderem der Chef des deutschen Bundesnachrichtendienstes Mitte Oktober öffentlichkeitswirksam mit. Russland könnte so versuchen, weiterhin Angst und Schrecken zu verbreiten. Aber solange wir keinerlei klare Beweise haben, durch die sich eine Verbindung mit Russland herstellen lassen, bleibt es reine Spekulation.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer und ein renommierter Experte für den Ukrainekrieg. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Front.

(Foto: privat)

Was könnte Russland damit bezwecken wollen?

Wir befinden uns in einer von Russland erzeugten eine Grundstimmung der Angst, die sofort sensibel macht für Ereignisse wie dem Absturz des Frachtflugzeugs über Litauen. Das Ganze steht im Zusammenhang mit den Ereignissen der letzten Woche. Der Auslöser war die Erlaubnis der US-Administration für den Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet. Die Freigabe ist nur für den Raum Kursk erfolgt. Europäische Verbündete wie Großbritannien und Frankreich haben nachgezogen, wodurch die Ukraine Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow im Raum Kursk auf ein russisches Hauptquartier schießen konnte. Parallel dazu haben wir eskalierende Maßnahmen von russischer Seite gesehen. Es gibt einige Aktionen, die man den Russen anrechnen kann, wie zum Beispiel die Unterbrechung von zwei Unterseekabeln in der Ostsee. Dann gibt es noch einige andere Ereignisse, bei denen im Raum steht, ob hybride Kriegsführung angewandt worden ist, zum Beispiel gab es Unregelmäßigkeiten in zwei finnischen Atomkraftwerken oder in der IT-Anlage bei der Fluggesellschaft British Airways. Der Höhepunkt war der Abschuss der russischen Hyperschall-Mittelstreckenrakete neuen Typs.

Der Einsatz der russischen Hyperschall-Mittelstreckenrakete ist also eine Drohung an westliche Länder. Müssen sie die Drohungen von Russlands Präsident Wladimir Putin ernst nehmen?

Im Herbst 2022 waren russische Truppen bei Cherson eingekesselt: 35.000 russische Soldaten, eingeschlossen zwischen der ukrainischen Armee und dem Fluss Dnipro, wodurch sie vom Nachschub abgeschnitten waren. Die Ukraine ließ die Russen abziehen, weil die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Nuklearwaffeneinsatzes von den Nachrichten- und Geheimdiensten der USA damals mit knapp über 50 Prozent bewertet wurde. Die US-Administration wollte mit den Russen ein Einverständnis erreichen, damit es nicht zur weiteren Eskalation kommt. Wir sehen jetzt wieder diese Zuspitzung. Man kann sich das vorstellen wie ein Schachspiel: Die eine Seite setzt einen Zug, die andere Seite beantwortet diesen Zug. Es eskaliert langsam, indem man die Eskalationsleiter Stufe für Stufe hochsteigt, aber alles noch kontrolliert und rational. Das Ziel ist zu eskalieren, um dann wieder zu deeskalieren. Jetzt gibt es wieder eine stufenweise Eskalation auf beiden Seiten. Die Frage ist: Kommt es wieder zu einem Zurückgehen auf die nächste untere Stufe - oder nach oben?

Wie könnte dieser Schritt zurück auf die nächste untere Eskalationsstufe aus Sicht der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten denn aussehen?

Es gab erwiesenermaßen zwei Angriffe mit weitreichenden Waffen, die aus dem Westen geliefert wurden: einmal mit den ATACMS-Raketen der USA auf das Munitionslager bei Brjansk und einmal mit den britischen Storm-Shadow-Raketen auf das russische Hauptquartier im Raum Kursk. Ein möglicher weiterer Angriff wurde bis jetzt nicht bestätigt. Wenn man möchte, dass der Einsatz der weitreichenden Waffensysteme nachhaltig Wirkung zeigt, müssen diese Angriffe in der Woche zwei, drei oder vier Mal stattfinden. Das sehen wir aber nicht. Wir haben diese beiden Angriffe gesehen. Wir haben dann die Eskalation gesehen durch die Schritte Russlands. Im Moment ist es ein Abwarten, wie es weitergeht. Wir haben bis jetzt noch keine weiteren Angriffe der Ukraine mit den weitreichenden Waffen aus dem Westen gesehen. Davon wird es abhängen, ob die nächsten Eskalationsschritte gesetzt werden oder nicht.

Was wäre ein möglicher Schritt Russlands, falls die Ukraine weiter mit westlicher Unterstützung Ziele in Russland angreift?

Falls Russland das als Eskalation sieht, kann es weitere Schritte gehen - mit hybriden Angriffen zum Beispiel, wie wir das gesehen haben bei der Unterbrechung dieser oben erwähnten Unterseekabel oder möglicherweise beim Absturz dieses Flugzeuges. Wenn das nicht reicht, könnte es nächste Schritte geben, zum Beispiel Angriffe auf Ziele, die von Bedeutung sind für die Ukraine. Denkbar wäre etwa ein Angriff auf ein Regierungsgebäude. Russland kennt eine genau abgestimmte Skala mit Stufen der Eskalation. Ein möglicher Schritt in weiterer Folge wäre zum Beispiel - rein theoretisch - auch die Zündung einer Atombombe über dem Schwarzen Meer, um hier ein sichtbares Zeichen zu setzen. Hier wären wir dann bei den Eskalationsstufen aber wesentlich weiter. In jedem Fall führt Aktion zu Reaktion. Man müsste versuchen, dieses Hochschaukeln zu durchbrechen.

Putin will nach Ansicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die von der Ukraine besetzten Gebiete in Kursk bis spätestens 20. Januar zurückerobern. Es ist das Datum für den Amtsantritt Donald Trumps in Washington. Wie ist die Lage in Kursk?

Russland hat auf allen Ebenen in der Kriegsführung eskaliert; erstens auf der strategischen Ebene mit einer massiven Zunahme von Luftangriffen durch Drohnen und Marschflugkörpern und ballistischen Raketen. Zweitens gibt es auch auf der operativen Ebene eine Eskalation durch den massiven Einsatz von Truppen nicht nur im Donbass, sondern auch im Raum Kursk. Drittens eskaliert Russland auf der taktischen Ebene durch den massiven Einsatz von Soldaten, Kräften, Ressourcen, Munition und Ausrüstung.

Bei einem Blick auf die Front sehen wir, dass die Russen in Kursk mittlerweile zum vierten Mal versuchen, die ukrainischen Kräfte abzuschneiden und den Vorsprung, den die Ukraine gewonnen hat, einzudrücken. Laut unterschiedlicher Berichte sind 40 bis 50 Prozent des Territoriums, das von der Ukraine am Beginn der Kursker Offensive in Besitz genommen worden ist, wieder an die Russen gefallen. Der enorme Druck der Russen ist einer der Gründe, warum die US-Administration den Einsatz von weitreichenden Waffen im Raum Kursk erlaubt hat. Man versucht den Ukrainern so unter die Arme zu greifen, dass sie in der Lage sind, den Kursker Raum so lange wie möglich zu halten. Damit hätte die Ukraine für den Fall, dass es tatsächlich ab dem 20. Januar unter einer Präsidentschaft Trumps Verhandlungen geben sollte, mit dem eroberten Raum in Kursk zumindest ein Faustpfand in der Hand

Also entscheidet sich in Kursk, welche Position die Ukraine bei möglichen Verhandlungen im kommenden Jahr einnehmen könnte?

So weit würde ich nicht gehen. Der eroberte Raum in Kursk ist von keiner wirklichen militärischen Bedeutung, mit Ausnahme, dass es sich um russisches Territorium handelt. Aber wir haben jetzt nicht die Situation, dass es zum Beispiel den Ukrainern gelungen wäre, das Atomkraftwerk in Kursk in Besitz zu nehmen. Das wäre ein massives Faustpfand. Und Russland hat diesen Köder nicht geschluckt, jetzt die Truppen aus dem Donbass vornehmlich nach Kursk zu verlagern. Die Russen üben momentan vor allem im Donbass enormen Druck aus. Mittlerweile sind die russischen Truppen dabei, Pokrowsk vom Süden aus zu umfassen. Falls Ihnen das gelingt, hätte das noch schwerwiegendere Konsequenzen als der direkte Angriff auf Pokrowsk selbst, weil durch eine Umfassung die Stadt faktisch nicht mehr haltbar ist. Und hinter Pokrowsk gibt es keine signifikanten Verteidigungsanlagen bis zum Dnepr. Man sieht, dass Russland auch im Donbass versucht, in den Wochen bis zum Januar so viel wie möglich zu erreichen, um in einer guten Ausgangsposition sein für etwaige spätere Verhandlungen.

Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen