
Als Mann aus dem Ruhrgebiet kann Kutschaty gut mit den Menschen, als ehemaliger Justizminister hat er Regierungserfahrung - doch bei einer Direktwahl würden deutlich mehr Menschen im Bundesland Hendrik Wüst ihre Stimme geben.
(Foto: IMAGO/Rene Traut)
In Nordrhein-Westfalen ist kommendes Wochenende Landtagswahl und nachdem es lange düster aussah, hat die SPD wieder Chancen auf den Sieg. Beim Wahlkampf in Wuppertal zeigen sich aber auch die Probleme, die Spitzenkandidat Kutschaty hat.
Für die Kinder, die am vergangenen Samstagmittag die Treppe der Laurentius-Basilika in Wuppertal herunterlaufen, ist es ein großer Tag. Sie haben an diesem Tag ihre Erstkommunion erhalten und freuen sich nun, dies mit Eltern, Verwandten und Freunden zu feiern. Die Landtagswahl am 15. Mai dürfte sie gerade eher weniger interessieren. Das ist anders bei dem Mann, Dreitagebart, Brille, weiße Sneaker, der gerade auf dem Platz angekommen ist. Thomas Kutschaty heißt er und seine Erstkommunion in Essen-Borbeck liegt cirka viereinhalb Jahrzehnte zurück. Er hofft nun auf andere Weihen. Er möchte Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen werden.
An diesem bewölkten Tag steht Wuppertal für ihn auf der Wahlkampfroute und als er am Laurentius-Platz eintrifft, ist alles für ihn bereitet. SPD-Chefin Saskia Esken, sie trägt ebenfalls weiße Sneaker, ist aus Berlin gekommen, um ihn, den Hoffnungsträger, zu unterstützen. Mehrere Kandidaten für den Landtag kommen auf ihn zu, während aus den Lautsprechern kubanisch klingende Salsamusik läuft. Kutschaty schüttelt Hände, plaudert etwas und klettert schließlich auf die Bühne, einen von der SPD dazu umfunktionierten Anhänger. Vor Kutschaty stehen mehrere Grüppchen älterer Herrschaften, vermutlich ein paar SPD-Wähler und ein paar andere, die zufällig vorbeikamen. Laut Polizei sind es 150 Menschen. Eigentlich sollte hier ein Wochenmarkt stattfinden, doch wurde der offenbar verlegt.
Bevor er über Politik spricht, gratuliert Kutschaty den Erstkommunionkindern. Für sie sei es ein großer Tag, "das darf ich als katholischer Sozialdemokrat sagen". Die Fähigkeit zu glauben, half ihm auch bei der SPD, denn für die sah es vor zwei Jahren noch schlecht aus. "Es hätte uns vor einiger Zeit niemand zugetraut, dass wir stärkste Kraft werden können", sagt er. Im Januar 2021 zum Beispiel, als Armin Laschet noch in Düsseldorf regierte und in Umfragen auf Sicht zur 40-Prozent-Marke lag und die SPD bei 17 Prozent dümpelte. Doch das Blatt wendete sich, als Laschet, der Unionskanzlerkandidat, bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst unterging. Seit Jahresbeginn liegen CDU und SPD etwa gleichauf, meist mit einem leichten Vorteil für die Christdemokraten. Die eigentliche Frage ist aber, ob es für Rot-Grün reicht oder nicht. Mal tut es das, mal könnte die SPD nur in einer Ampel-Koalition regieren. Was Kutschaty versuchen würde.
"Lasst uns das anpacken"
Auf dem Bühnenanhänger spricht er über die zehn Kinder, die an diesem Tag laut Statistik in Wuppertal geboren werden. "Bei manchen reicht die Postleitzahl, um zu sagen, was aus ihnen wird", sagt er. "Das macht mich wütend, dass ich sagen kann, welchen Schulabschluss sie bekommen werden." NRW fehlen die Erzieher und Grundschullehrer. Doch das soll sich nun ändern. Die Kita-Gebühren will die SPD abschaffen und die Grundschullehrer sollen mehr Geld bekommen. "Verdammt nochmal, wir leben nicht 1922, sondern 2022, das müssen wir jetzt doch mal anpacken", ruft Kutschaty auf den Platz hinaus.
Der 53-Jährige kommt selbst aus einer Gegend, wo manche zu wissen meinten, was aus den Kindern dort wird - aus Essen-Borbeck, wo er abgesehen von ein paar Monaten als Rechtsreferendar in Bielefeld auch stets geblieben ist. Aufgewachsen in einer Eisenbahnerfamilie war er der erste, der das Abitur machte. "Ich hatte es aber leichter als die Kinder heute", sagt er im Gespräch mit ntv.de. Heute seien die Stadtteile viel homogener. "In meiner katholischen Jugendgruppe in Essen waren der Sohn vom Arzt, der vom Fabrikanten, da interessierte es niemanden, was die Eltern machten." Es folgten Jura-Studium in Bochum und einige Jahre als Rechtsanwalt. Die bislang letzte SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft machte ihn dann 2010 zum Justizminister, was er bis zum Ende von Rot-Grün im Jahr 2017 blieb.
Seit vier Jahren ist Kutschaty Fraktionsvorsitzender, seit einem Jahr auch Parteichef in seinem Bundesland. "Ich merke, dass die Leute sehr aufgeschlossen sind", sagt er zu ntv.de. "Sie wechseln nicht mehr die Straßenseite, wenn sie einen SPD-Stand sehen." Das sei in früheren Jahren anders gewesen. Auf dem Laurentius-Platz in Wuppertal sagt er: "Wir haben keinen Bock mehr auf Opposition. Wir wollen regieren."
"Mallorca-Gate" half der SPD
Sollte es klappen, könnte sich die SPD zumindest zum Teil bei der CDU bedanken - wegen des "Mallorca-Gate". Nach der Flutkatastrophe im vergangenen Jahr flog Umweltministerin Ursula Heinen-Esser nach Mallorca, um mit ihrem Mann Geburtstag zu feiern. Heinen-Esser zögerte mit dem Rücktritt, bis ihr Chef, Ministerpräsident Wüst, ein Machtwort sprach. Da war der Schaden für die CDU schon da.
Bis dahin sah es gut für Wüst aus. Die Kriminalität sinkt und er wirbt damit, 400.000 neue Jobs und 10.000 Lehrerstellen geschaffen zu haben. Außerdem fielen ihm als Vorsitzendem der Ministerpräsidentenkonferenz viele Fernsehauftritte zu. So konnte er sich neben Kanzler Olaf Scholz in bundesweiter Aufmerksamkeit sonnen. Und das Image hinter sich lassen, bloß der Ersatzmann für den gescheiterten Laschet zu sein. Laut einer Forsa-Umfrage für NRW-Zeitungen würden 39 Prozent der Wähler Wüst ihre Stimme geben, wenn man den Ministerpräsidenten direkt wählen könnte. Bei Kutschaty sind es nur 28 Prozent.
Nach seiner Rede auf dem Wahlkampfanhänger tummelt sich der auf dem Platz vor der Basilika. Ein Selfie? Na klar. Dürfen wir ein Foto machen? Selbstverständlich. Anschließend geht Kutschaty in die Fußgängerzone und bietet den Menschen Tulpen an. Eigentlich verteilen SPD-Politiker ja immer Rosen, aber die waren ausverkauft, wie ein Mitarbeiter verrät. Die Menschen in der Fußgängerzone nehmen hier und da eine mit. Viele scheinen den SPD-Spitzenkandidaten aber gar nicht zu erkennen.
"Da ist ja das neue Plakat"

Kutschaty (l.) beim Wahlkampf in Solingen-Weegerhof. Zwei junge Männer überraschen ihn mit Mitgliedsanträgen.
(Foto: Volker Petersen / ntv.de)
Nächste Wahlkampf-Station ist das benachbarte Solingen. Kutschaty und sein Team steigen in einen schwarzen Kleinbus und da noch ein ganzer Korb voll Tulpen übrig ist, nehmen sie den auch mit. Unterwegs deutet Kutschaty aus dem Fenster. "Da ist ja das neue Plakat", sagt er. Es zeigt seinen Kopf neben dem von Olaf Scholz. Der Kanzler war schon zum Wahlkampfauftakt da, und wird auch zur Schlusskundgebung kommen. Viele Bundesthemen spielen in diesem Wahlkampf eine Rolle - allen voran der Ukraine-Krieg. NRW hat 138.000 Flüchtlinge aufgenommen. In den gut zwei Monaten kamen mehr Menschen als 2015 in diesem Zeitraum. Auch die hohen Benzin-, Diesel- und Gaspreise drücken auf die Stimmung.
Am frühen Nachmittag trifft Kutschaty die Landtagsabgeordnete Marina Dobbert in der schmucken alten Solinger Arbeitersiedlung Weegerhof. Der Plan: An Türen klingeln, eine Tulpe abgeben und zur Wahl aufrufen. Mit dabei ist ein Pulk von Mitarbeitern, Parteifreunden und Journalisten. Dobbert klingelt an einer Tür und sagt, sie sei hier mit Thomas Kutschaty. Doch der Mensch am anderen Ende der Gegensprechanlage möchte ihn nicht treffen. "Wenn ich aus dem Fenster gucken würde, ich würde auch nicht aufmachen", sagt Kutschaty und grinst. "Wir sehen aus wie eine große Drückerkolonne."
Im Haus gegenüber beobachtet eine Frau vom Fenster im ersten Stock die Szenerie und filmt sie mit ihrem Handy. "Dürfen wir Ihnen auch eine Tulpe hochbringen? Machen Sie mal auf!", ruft Kutschaty ihr zu. Sie: "Wer sind Sie denn?" Er: "Ich bin Thomas Kutschaty, Spitzenkandidat der SPD für die Landtagswahl." Sie: "Von Ihnen nehme ich gerne was." Kutschaty verschwindet mit Dobbert im Haus.
Auch in einem weiteren Haus sind sie erfolgreich. Ein älterer Herr, der freundlich lächelt, möchte wissen, was Kutschaty in Sachen ÖPNV vorhat. Fahrradfahren sei im Bergischen Land nicht immer die Lösung. Er sagt: "Manches gefällt mir bei Ihnen, manches aber auch nicht. Läuft ja ganz gut bei Ihnen, hoffen wir mal, dass es so bleibt!"
Da könnte ja jeder kommen
So wird der Besuch der alten Arbeitersiedlung doch noch zum Heimspiel, so wie es sich die Wahlkampfplaner vermutlich erhofft hatten. Das verstärkt sich noch, als zwei junge Männer Kutschaty auf der Straße damit überraschen, dass sie ihm Mitgliedsanträge für die SPD überreichen. Der freut sich, sagt ihnen gleich, dass man sich in der SPD duzt und fügt hinzu: "Lasst euch nicht abschrecken. Es wird immer Leute geben, die sagen: 'Da könnte ja jeder kommen' und 'Das haben wir schon immer so gemacht.'"
Einer der beiden, Timur Günes, erzählt, die Abgeordnete Marina Dobbert sei in der alevitischen Gemeinde Solingen zu Besuch gewesen und habe interessante Gespräche mit ihm geführt. Zusammen hätten sie die Idee gehabt, Kutschaty den Mitgliedsantrag persönlich zu geben. Der junge Mann sagt, ihn interessiere besonders das Thema Nachhaltigkeit. Die SPD finde er da überzeugender als die Grünen, weil ihr Programm ausgewogener sei, die Wirtschaft mehr im Blick behalte. Die Grünen seien ihm zu extrem.

Kutschaty und Esken nehmen die S-Bahn nach Remscheid. Endziel: Düsseldorf.
(Foto: Volker Petersen / ntv.de)
Mit den Grünen allerdings wird die SPD gemeinsam regieren müssen, entweder als Rot-Grün oder als Ampel mit der FDP - sollte es nicht zu Schwarz-Grün kommen. Deren Spitzenkandidatin Mona Neubaur hält sich alle Optionen offen, inhaltlich liegt sie aber bei wichtigen Landesthemen wie Verkehr, Bildung und Energie näher bei den Sozialdemokraten.
Nach dem Termin in Solingen fährt Kutschaty zum S-Bahnhof, um mit der Bahn zum nächsten Termin nach Remscheid-Lennep zu kommen. Kutschaty und Esken steigen in die Bahn, leere Gesichter blicken ihnen entgegen. Die meist jungen Menschen reagieren nicht auf die Spitzenpolitiker. Die S-Bahn rollt über die Müngstener Brücke, der höchsten in Deutschland. Von oben eröffnet sich ein weiter Blick über Nordrhein-Westfalen. Irgendwo dahinten ist Düsseldorf.
Quelle: ntv.de