Politik

Großbritannien sprengt die EU-28 Welche Brexit-Strategie verfolgt Merkel?

Herzliche Begrüßung beim EU-Gipfel - der britische Premier Cameron und Kanzlerin Merkel.

Herzliche Begrüßung beim EU-Gipfel - der britische Premier Cameron und Kanzlerin Merkel.

(Foto: REUTERS)

Der britische Premier verzockt die EU-Mitgliedschaft seines Landes. Dann wälzt er die Verantwortung auf seinen Nachfolger ab. Die mächtigste Frau der Welt, Kanzlerin Merkel, reagiert verstörend gelassen. Vielleicht aus gutem Grund.

Allen, wirklich allen Spitzenpolitikern der EU ist klar: David Cameron hat etwas unglaublich Dummes angerichtet, als er aus parteitaktischem Kalkül ein Referendum über die Mitgliedschaft von Großbritannien in der EU anberaumte. Er wollte ja selbst nie, dass es zum Brexit kommt. Und weil er sein Volk nicht von den Vorzügen der Mitgliedschaft überzeugen konnte, musste er mittlerweile auch schon seinen Rücktritt ankündigen.

Als wäre seine Politik nicht schon fahrlässig genug, hält er die EU nun mit einem vielleicht taktischen, womöglich aber auch nur unglaublich feigem Zug in einem Dämmerzustand, der die gefährlichsten Selbstzerstörungstendenzen der Union nährt. Anders als ursprünglich angekündigt, beantragte Cameron nach dem verlorenen Referendum nicht formell den Austritt des Königreichs aus der EU. Hätte er das getan, wäre der Prozess des Ausstiegs auf zwei Jahre begrenzt und zumindest ansatzweise berechenbar gewesen. Cameron wälzt diesen Akt auf seinen Nachfolger ab, der wohl erst in ein paar Monaten feststehen wird.

Und was macht die mächtigste Frau der Welt in dieser Situation? Während die Spitzen der europäischen und deutschen Politik - von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, über EU-Parlamentspräsident Martin Schulz bis hin zu Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker - die verbalen Daumenschrauben ansetzen und auf die sofortige Aktivierung des EU-Austrittsartikels 50 pochten, hieß es von Kanzlerin Angela Merkel zunächst nur: Es solle "nicht ewig dauern, aber ich würde mich jetzt auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen." Wie bitte? In ihrer Regierungserklärung ein paar Tage später mimte sie dann die eiserne Kanzlerin – ohne sich dem Drängen nach Artikel 50 ernsthaft anzuschließen.

Der Umgang Merkels mit dem Brexit wirft wieder einmal die Frage auf, was es mit ihrer Art, Politik zu machen, eigentlich auf sich hat.

Packende Narrative sind nicht Merkels Sache

Der Ehrlichkeit halber sei gesagt: Man weiß es schlicht nicht. Erstens, weil Merkel ihre Strategie natürlich nicht öffentlich ausweidet. Zweitens, weil sie sich selbst dann, wenn sie es will, eher schwertut, ihre Beweggründe zu erklären. Mitreißende Reden und packende Narrative sind nicht Merkels Sache.

Ihr Umgang mit dem Brexit lässt sich aber mit einem Prinzip beschreiben, mit dem schon wiederholt versucht wurde, die Eigenarten der Politik der Kanzlerin zu fassen, zuletzt von Bernd Ulrich in der "Zeit". In dem Artikel ging es um die Frage, "wie Angela Merkel die weibliche Politik erfand". Das entscheidende Stichwort heißt: "Decisions versus Dynamics".

Demnach versuchen die meisten männlichen Politiker in einer zusehends chaotischen Welt durch "wuchtige Entscheidungen" Kontrolle zu demonstrieren. Decisions. Merkel versucht demnach eher gesellschaftliche Dynamiken einzuhegen, die ohnehin unausweichlich sind.

Die Menschen ließen sich kurzfristig ohnehin nicht stoppen

Beispiele dafür gibt es zuhauf. So galt Merkel nie als Vertreter einer besonders offenen Flüchtlingspolitik - bis im Sommer 2015 die Folgen einer vollends gescheiterten Nahost-Politik Europa in Form von Hunderttausenden Flüchtlingen erreichten. Statt im Stile eines Horst Seehofers nach geschlossenen Grenzen zu krakeelen oder wie es ihr oft fälschlicherweise vorgeworfen wird, alle Schotten in einem großen Staatsakt zu öffnen, war ihr vor allem klar, dass sich die Menschen zumindest kurzfristig und bei einem Mindestmaß an Humanismus nicht stoppen ließen.

Auch angesichts einer wachsenden Willkommenskultur war sie überzeugt, dass es eine bessere Möglichkeit geben muss, als Familien im Mittelmeer ersaufen oder auf einem Budapester Bahnhof verhungern zu lassen. In den folgenden Monaten hegte sie die Dynamik ein, indem sie einen leidlich humanen aber praktikablen Deal mit der Türkei abschloss.

Das Prinzip von "Decisions versus Dynamics" lässt sich auch auf Merkels Umgang mit Wladimir Putin und der Annexion der Krim übertragen. Während vor allem US-Senatoren mit großer Geste forderten, die Ukrainer mit Waffen zu beliefern, die Nato-Staaten im Baltikum aufzurüsten und Putin klarer in die Schranken zu weisen, beharrte Merkel auf einem Kurs der ausdauernden Diplomatie in Kombination mit wirtschaftlichen Sanktionen.

Mittlerweile ist klarer denn je: Putin lässt sich in einer Provokationsspirale kaum übertrumpfen. Außerdem zeigte die jüngste Übung der Nato in Polen, dass das Militärbündnis selbst dann nicht in der Lage wäre, seine Mitglieder im Osten zu schützen, wenn es eine militärische Konfrontation mit Russland tatsächlich riskieren würde. Die Truppen des Bündnisses wären wohl schlicht zu langsam, um rechtzeitig dort zu sein.

Das Chaos ist schwer mitanzusehen

Im Falle des Brexit gilt: Die lauten Rufe Junckers, Steinmeiers und Schulz’ verstummen allmählich. Sie müssen sich damit abfinden, dass sich die Briten mit der Aktivierung von Artikel 50 noch ein wenig Zeit lassen werden. Denn daran kann sie niemand hindern. Im Vertrag von Lissabon ist es nicht vorgesehen, ein EU-Mitglied aus der Gemeinschaft zu schmeißen. Nur wenn die Briten den Antrag stellen, beginnt der Austrittsprozess.

Daran ändert auch Artikel 7 des Vertrags nichts, der eine Suspendierung der Mitgliedschaft eines widerspenstigen Staates zulässt. Der Artikel greift nur, wenn ein Land sich gegen Grundprinzipien wie Freiheit, Rechtstaatlichkeit oder Demokratie stellt.

Natürlich: Mitanzusehen, wie sich eine große Ansammlung an taktischen Dummheiten (David Cameron), falschen Wahlversprechen (Boris Johnson) und fehlgeleitetem Frust (Nigel Farage) nun im völligen Chaos entfalten, ist schwer zu ertragen. Wildes Getöse, Drohungen und drastische Entscheidungen nützen in der Logik, der die Kanzlerin vielleicht folgt, trotzdem wenig. Sie könnten die abtrünnigen Briten im Zweifelsfall vielmehr dazu ermuntern, noch klarer auf einen egoistischen Kurs einzuschwenken.

Quelle: ntv.de

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