Axt-Angriff und Nizza-Bluttat Wenn sich Einzeltäter radikalisieren
19.07.2016, 20:58 Uhr
Polizisten durchsuchen das Gelände nach Spuren. Am Montagabend war hier ein Mann mit einer Axt auf Fahrgäste in einem Regionalzug losgegangen.
(Foto: dpa)
Immer häufiger radikalisieren sich Extremisten unter dem Radar der Behörden. Vor solchen Einzeltätern warnen die Sicherheitsbehörden seit längerem. Inzwischen ist mit einer ganzen Palette von Szenarien zu rechnen.
Bislang deutet alles darauf hin, dass der Axt-Angreifer von Würzburg ein Einzeltäter war. Binnen kurzer Zeit wurde aus einem unscheinbaren jungen Flüchtling ein islamischer Gotteskrieger. So zumindest sehen es die Ermittler. Ein gleiches Muster stellten die Sicherheitsbehörden auch bei dem Attentäter von Nizza fest. Auch wenn der Anschlag in Frankreich vergangene Woche weit größere Dimensionen hatte, so verbindet beide Täter offenbar eins: Den Sicherheitsbehörden waren sie nicht als Gefährder bekannt, beide Männer radikalisierten sich unterhalb des Radars von Polizei und Geheimdiensten.
Der 31-jährige Nizza-Attentäter tunesischer Herkunft war der Polizei lediglich als Kleinkrimineller bekannt. Der 17-jährige Afghane, der mehrere Menschen am Montagabend in einem Zug in Bayern mit einer Axt schwer verletzte, war bislang nicht auffällig geworden. Zeugen beschreiben ihn als ruhig und ausgeglichen, der gläubige Muslim sei lediglich zu religiösen Feiertagen in die Moschee gegangen. Im Zimmer des Täters wurde ein Text in paschtunischer Sprache entdeckt, was laut bayerischem Innenminister Joachim Herrmann darauf hindeutet, dass sich der Mann innerhalb kürzester Zeit selbst radikalisierte.
Die Sicherheitsbehörden warnen seit längerem vor solchen Einzeltätern. Inzwischen ist mit einer ganzen Palette von Szenarien zu rechnen, bei denen Täter in Erscheinung treten können, wie der Bundesverfassungsschutz beschreibt:
Verschiedene Täter-Szenarien
- Zum einen sind da sogenannte "Hit-Teams", die im Auftrag der Extremistenorganisation IS oder auch von Al-Kaida in ein Land einreisen, um Anschläge zu verüben.
- Als Bedrohung gelten auch sogenannte Schläfer, die von den Extremistenorganisationen aktiviert werden können.
- Sorge bereiten den Behörden auch Personen, die sich aus Deutschland oder anderen Ländern auf den Weg nach Syrien machen, um an der Seite des IS zu kämpfen - und später enthemmt und mit Kampferfahrung zurückkehren. 820 Personen sind bislang aus Deutschland in den Dschihad gezogen.
- Die wohl unberechenbarste Gruppe stellen die besagten Einzeltäter dar, die sich meist über das Internet oder über Kontakte in die islamistische Szene radikalisieren. Auch Kleingruppen, die sich in Deutschland im Stillen radikalisiert haben, könnten hier ohne Auftrag des IS tätig werden. Die Internetpropaganda spielt hier ebenfalls die wesentliche Rolle.
Taten mit einfachen Mitteln
Das Bundesinnenministerium verweist seit längerem auf die Gefahr von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese versuchten zunehmend, mit relativ geringem Aufwand hohen Schaden anzurichten. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen machte unlängst deutlich, dass gerade islamistisch motivierte Täter ohne Auftrag auf eine "unkomplizierte Tatausführung mit einfachen Mitteln" setzten - in Nizza war es ein Lastwagen auf der Uferpromenade, in Bayern eine Axt.
Als Beispiel gilt auch die Attacke der 15-jährigen Safia S., die im Februar am Hauptbahnhof von Hannover einen Bundespolizisten mit einem Küchenmesser schwer verletzte. Ihr Tatmotiv scheint eine gescheiterte Ausreise nach Syrien gewesen zu sein, da sie von ihrer Mutter zurückgeholt wurde.
Wenn es sich um Einzeltäter handelt, sind konkrete Vorermittlungen für Polizei und Verfassungsschutz äußerst schwierig. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, räumt daher ein, dass bei solchen Tätern den Behörden teils die Hände gebunden sind. "Man muss sich nicht der Illusion hingeben, dass man mit Personal, mit Polizei und Sicherheitskräften solche Vorfälle vollständig wird verhindern können", sagte er. "Wenn ein zu Allem entschlossener Einzeltäter solche Gewalttaten begehen will, dann wird er das tun."
Das Umfeld ist gefragt
Eine Chance zur Verhinderung solcher Anschläge liegt im Umfeld der Täter. Denn dort gibt es meist Personen, die in die Vorhaben eingeweiht waren oder Kenntnis darüber bekommen haben. Innenminister Thomas de Maiziere hat mehrfach an Eltern, Nachbarn, Lehrer, Arbeitskollegen oder Mitspieler in Fußballvereinen appelliert, vor Radikalisierungen nicht die Augen zu verschließen. Ein Anhaltspunkt kann sein, wenn ein Jugendlicher neben der eigenen Religion keine anderen Meinungen duldet und die alten Freunde plötzlich als Ungläubige bezeichnet.
Auch wenn die bisherige Lebensweise, Hobbys und Musik plötzlich verteufelt werden oder der Jugendliche ständig auf salafistischen Seiten surft, könnte dies einer Broschüre des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge ein mögliches Indiz sein. Aufmerksamkeit ist auch gefragt, wenn sich das eigene Kind zurückzieht und die Eltern Angst haben, den Kontakt zu verlieren.
Beim BAMF gibt es für solche Fälle eine Beratungsstelle mit einer Telefon-Hotline. Seit 2012 sind dort nach Angaben eines Sprechers rund 2500 Anrufe eingegangen, allein in diesem Jahr schon knapp 400. "In allererster Linie handelt es sich um Familienangehörige." Meistens werden die Fälle an andere Beratungsstellen weitergegeben, die in einem Netzwerk zusammengeschlossen sind. In sicherheitsrelevanten Fällen wie einer bevorstehenden Ausreise nach Syrien wird mit den Behörden zusammengearbeitet.
Salafisten als Gefahr
Gerade in den inzwischen rund 8900 Salafisten sehen die Sicherheitsbehörden eine große Gefahr. Diese versuchen, Einfluss auf junge Leute zu nehmen, um sie zu radikalisieren oder als IS-Kämpfer zu rekrutieren. Gerade bei Flüchtlingen könnten Salafisten auf offene Ohren stoßen - begünstigt durch Unzufriedenheit mit der Unterkunft, Desillusion und Frustration.
Der afghanische Täter von Würzburg kam vor etwa einem Jahr als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland. Nach mehreren Wochen in einer Aufnahmeeinrichtung wohnte er seit zwei Wochen in einer Pflegefamilie. Vor kurzem habe er dann die Nachricht vom Tod eines Freundes in Afghanistan erhalten. Das könnte der Auslöser für die Gewalttat gewesen sein.
Quelle: ntv.de, dsi/rts